Jenseits von Ninive

Ein Science-Fiction von E.M. Jungmann

 

Der Mensch ist nicht dafür gemacht, zu den Sternen zu sehen. Wenn er sich lange den Hals nach ihnen ver­dreht, schmerzt sein Genick. Darum war Nadjeshda Iwanowna Kolesnikowa Soldat der Sternenflotte der Heiligen Weltkir­che geworden. Sie wollte in das Antlitz Gottes blicken, ohne sich dabei zu verrenken.

Die Blutnacht der Mnaah

Schlachtschiff Matthäus, 7. Juli 2521

Eine unsichtbare Grenze zerschnitt das All am Rücken des Großen Hundes wie ein düsterer Todesgraben. Eine Barriere, von der nur wusste, wer entweder hinter ihr wohnte oder sie von außen zu überwinden versuchte. Drei Schlachtschiffe warteten kampfbereit auf ihrer Innenseite, flankiert von elf Kreuzern und rund 200 Jägern. Ihr Gegenüber war kein mächtiger, Angst einflößender Gegner. Was hier knapp 8000 Parsec von der Erde entfernt vor sich ging, sollte von manchen später als »Die Blutnacht der Mnaah« bezeichnet werden. Nadjeshda Iwanowna Kolesni­kowa, Kapitän des Schlachtschiffes Matthäus, war einer ihrer Zeugen, und wie ihre Kameraden schwieg sie lange Zeit über den Vorfall. Aber etwas ge­schah an diesem 7. Juli 2521 mit ihr. Etwas in ihr wurde wachgerüttelt.

Die quaderförmigen Flüchtlingsschiffe der Mnaah glitten wie gewaltige Stelen auf den Zaddikim-Kampfverband zu. Kosmischen Spie­geln gleich re­flektierten sie in bizarrer Schönheit die verschmierten Sonnen des sterbenden Canis-Major-Zwerges. Sie flogen in starrer Formation, als seien sie fest miteinander verbunden. Jedes von ihnen trug 40.000 ver­zweifelte Mnaah in sich. Aber ihr Ziel sollte nicht die ersehnte Rettung sein – sondern ihr Tod.
Das Mittlere der drei Zaddikim-Schlacht­schiffe, die Petrus, trug das Flaggschiffzeichen auf seinem langen Rücken; ein gewaltiges blutrotes Fischsymbol. Sein Kommandant, Flottillen­admiral Xabier Juanes, gab Befehl, bis zur Vernichtung des Feindes zu feuern, falls die Mnaah in die Zugriffszone eindrangen. Als die Order über den Hauptmonitor der Matthäus hereinkam, ballte Nadja Kolesnikowa die Faust. Sie wusste, dass die Mnaah nicht auf ihrer Seite der Grenze bleiben würden. Sie hatten keine Wahl. Ihre Galaxie löste sich immer schneller auf. Die einzigen beiden Planeten, auf denen humanoides Leben möglich gewesen war, verdampften in ihren zerflie­ßenden Sonnen.
Sie riefen die Petrus. Der Kapitän des Mnaah-Führungsschiffes flehte Juanes an, ihn und seine Leute durchzulassen. »Wir sind die letzten Überlebenden unseres Volkes. Wenn Sie uns zurückschlagen, löschen Sie unsere Spezies aus!«
Nadja fror bei Juanes‘ Antwort: »Jedes Ihrer Schiffe, das auch nur die Nase in unseren Sektor streckt, wird in einem gleißenden Feuerball aufgehen, dessen Licht bis zur Erde reicht. Sie wurden gewarnt, nicht hierherzukommen. Das All ist groß genug. Sie hätten sich eine andere Zuflucht suchen können. Wenn Ihnen das Überleben Ihres Volkes wirklich so viel bedeutet, drehen Sie jetzt ab und entfernen sich von unserer Grenze.«
»Wir können nicht!«, rief der Mnaah-Kapitän. »Wir haben nicht genug Vorräte und Energie, um eine Reise ins Ungewisse zu wagen. Ich bitte Sie, lassen Sie uns durch. Sobald wir unsere Schiffe für eine Weiterreise ausgerüstet haben, werden wir die Zugriffszone wieder verlassen, das schwöre ich Ihnen, Flottillenadmiral Juanes. Bitte, geben Sie uns eine Chance, unsere Leben, unser Volk zu retten.«
Die Mnaah-Schiffe glitten weiter auf die Zaddikim zu. Auf dem Hauptschirm der Matthäus wurden sie als rote Dreiecke dargestellt, die Grenze der Zugriffszone als blaue, bogenförmige Linie. Sobald eines der Dreiecke diese Linie durchbrach, würde es zu blinken beginnen und frei für den Abschuss sein.
Nadja schloss die Augen. Tief drinnen war ihr danach, beizudrehen und ihre Waffen auf die Petrus zu richten. Fast noch schlimmer als Juanes‘ Order war, dass er eine satanische Freude daran hatte, die Zivilisten in den Flüchtlingsschiffen abzuschlachten. Das war keine bloße Annahme. Nadja hatte lange genug unter ihm gedient, um es sicher zu wissen. Er kannte kein Erbarmen. Galt es irgendwo einen Aufstand besonders brutal niederzuschlagen oder eine »vom christlichen Weg abgekommene« Zivilisation in den Schoß der Heiligen Weltkirche zurückzuholen, wurde Xabier Juanes eingesetzt.
Nadja riss sich zusammen. Sie war Offizier der Zaddikim. Sie hatte einen Eid auf das Neue Testament geschworen, dem Piscator Hominum, Alexander XI., die Treue zu halten und seine Befehle zu allen Zeiten zu befolgen. Und da Juanes einer seiner höchsten Offiziere war, musste sie ihn als Befehlshaber anerkennen – und seinen Weisungen gehorchen.
Das führende Dreieck berührte mit seiner Vorder­spitze die blaue Linie. Es blinkte rot auf. Nadjas Waffenoffizier sah sie fragend an. Sie nickte. »Feuer, Herr Nieves!«

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Juanes befahl, die Heimreise nur mit halber Feld­geschwindigkeit anzutreten. Elf der 20 Flücht­lingsschiffe waren vernichtet, neun entfernten sich, teils schwer angeschlagen. Juanes war der Ansicht, ihr Rückzug könne eine Finte sein. Darum wollte auch er sich nur scheinbar zurückziehen. Sie sollten noch eine Weile auf dem Schirm bleiben.
Wenige Stunden nach dem Gefecht befahl er Nadja und Kapitän Hagens vom Schlachtschiff Paulus auf das Flaggschiff.
»Ich habe keine Lust, mit diesem Schlächter an einem Tisch zu sitzen«, sagte Nadja, als ihr Erster Offizier, Kapitänleutnant Frederic Henson, sie an den Termin auf der Petrus erinnerte. »Mir wird übel, wenn ich nur an ihn denke.«
»Es wird sich nicht vermeiden lassen, der Einladung dennoch zu folgen, Frau Kapitän. Juanes ist ohnehin nicht gut auf Sie zu sprechen.«
»Das ist stark beschönigt, 1O. Er würde mich am liebsten als Galionsfigur vor sein Schiff binden. Wenigstens etwas, auf das ich mir was einbilden kann.«
Henson grinste schief. »Was ist eigentlich dran an dem Gerücht, dass Juanes Ihretwegen noch nicht Konteradmiral ist? Haben Sie ihn irgendwann mal mit etwas drangekriegt?«
»Das war nicht nötig«, antwortete sie. Sie ver­drängte die in ihr aufkommenden Bilder aus der Zeit, in der sie gemeinsam auf dem Schlachtschiff Johannes gedient hatten. »Er hat damals einfach dem Falschen ans Bein gepinkelt. Meinetwegen, ja, aber in erster Linie hat er versucht, seinen damaligen Kapitän hinters Licht zu führen.«
Als Henson sie fragend ansah, schüttelte sie den Kopf. Ihr war nicht danach, länger über diesen Mann zu sprechen, als es unbedingt notwendig war. Es lag schließlich 18 Jahre zurück.

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Um kurz nach 20 Uhr Bordzeit trafen Sie auf der Petrus ein. Nadja hatte keinen Wert darauf gelegt, pünktlich zu sein. Sie konnte auf Juanes‘ Selbst­beweihräucherungen verzichten, seine heroischen Reden darüber, wie großartig dieser Tag gelaufen war und wie heldenhaft sie die Mnaah zurückgeschlagen hatten. Was sie heute getan hatten, war ein Verbrechen. Die Ermordung Unschuldiger, die für niemanden eine Bedrohung waren.
Bis auf zwei Plätze am unteren Teil der langen Tafel waren alle Stühle belegt, als Nadja und Henson die Offiziermesse betraten. Juanes saß an der Stirnseite. Wie ein Feudalherrscher hatte er Speisen auftafeln lassen, die normalerweise auf einem Schlachtschiff nicht zu bekommen waren; Rehbraten, Wachteln, sogar Austern und Hummer. Champagner wurde ausgeschenkt, Port, uralter Whisky; auch auf der Erde nahezu unbezahlbar.
Man nahm keine Notiz von Nadja und Henson, als sie sich setzten. Juanes und Kapitän Hagens taten, als seien sie gar nicht da. Stattdessen ergingen sich die beiden Männer in derben Späßen, die selbst manch gestandenem Kerl die Röte auf die Wangen getrieben hätten.
Dass Nadja die einzige Frau in der Runde war, überraschte sie nicht. Juanes hasste Frauen. Sie waren für ihn nicht mehr als Lustobjekte, auf keinen Fall würdig, Offizier zu sein. Eine Frau, die das Pech hatte, auf die Brücke der Petrus versetzt zu werden, war in der Hölle angekommen. Sie wurde so lange von Juanes gequält, bis sie den Dienst bei den Zaddikim entweder freiwillig quittierte oder das Schicksal ihr andere Wege eröffnete, ihm zu entkommen. Manch eine Offizierin sollte sich aber auch schon das Leben genommen haben.
Als das Essen von der Ordonnanz vorgelegt wurde, schwoll der Geräuschpegel deutlich ab. Nadja musterte die Gesichter der Kameraden. Da war der Erste Offizier der Petrus, Kapitänleutnant Roger Farnsworth, mit dem sie jahrelang den Hörsaal in der Akademie geteilt hatte. Er warf ihr verstohlene Blicke zu, wagte aber nicht, mit ihr zu sprechen. Oberleut­nant Karl-Heinz Posnanzki, heute Sicherheitsoffizier; als sie ihn kennengelernt hatte, war er ein mehr oder minder aussichtsloser Kadett auf der Johannes gewesen. Jetzt hatte er es also tatsächlich bis zum Oberleutnant gebracht. Er musste Qualitäten besitzen, die außerhalb soldatischer Fähigkeiten zu finden waren. Michael Potomek – ihn kannte Nadja ebenfalls aus ihrer Zeit auf der Johannes. Damals war er Navigator gewesen, jetzt verriet seine Uniform, dass er inzwischen dem Maschinendeck angehörte. Er tat, als bemerke er nicht, wie sie ihn musterte. Zu guter Letzt sah sie in die blassen Augen des schweigsamen Pjotr Smirnow, den sie, wie Farnsworth, von der Akademie kannte. Er war noch genauso hager wie damals, genauso bleich, genauso wortkarg. Aber als Einziger hielt er ihren Blicken stand.
»Du hast dich heute ziemlich zurückhaltend gezeigt, als es um die Abwehr des Feindes ging, Kolesni­kowa«, sagte Juanes. Er brach knackend eine Auster auf. »Ich hätte etwas mehr Einsatz von dir erwartet.«
Nadja trank einen Schluck, richtete den Blick auf den verhassten Mann und entgegnete: »Der Befehl lautete, die Schiffe anzugreifen, die die Grenze zur Zugriffszone überschreiten. Das habe ich getan.«
»Aber es war absehbar, dass dem Führungsschiff weitere Schiffe folgen werden. Und mir schien, du hast gezögert, diese aufzuhalten.«
»Ich habe nicht gezögert, sondern gewartet, bis sie die Grenze tatsächlich überschritten. Hätten Sie und Kapitän Hagens sich ebenso verhalten, wären viel­leicht nur drei der Schiffe zerstört worden.«
»Schwingt da Kritik in deinen Worten, Kolesni­kowa?«
»So wenig wie Angriffslust in Ihren, Herr Flottillenadmiral.« Sie nahm ebenfalls eine Auster und brach sie auf, ohne Juanes‘ feindseligem Blick auszuweichen.
Xabier Juanes legte sein Besteck auf den Teller und tupfte sich den Mund ab. Er nahm einen Schluck Wein und sagte: »Es ist im Interesse der Heiligen Weltkirche, die Zugriffszone vor böswilligen Ein­dringlingen zu schützen. Wenn du dieser Aufgabe nicht gewachsen bist, solltest du dein Kommando niederlegen und einen sozialeren Beruf ergreifen. Setz dir eine Schwesternhaube auf und pflege Verwundete, wenn dir der Dienst an der Front zu hart ist, aber schwäche nicht unsere Schlagkraft.«
Nadja biss die Zähne zusammen und unterdrückte die Wut, die in ihr gärte. »Ich bin jederzeit bereit und in der Lage, die Zugriffszone gegen echte Bedrohungen zu verteidigen, Herr Flottillenadmiral. Aber wehrlose Zivilisten abzuschlachten gehört nun mal nicht zu den Dingen, für die ich ausgebildet wurde.«
Juanes presste die Lider zusammen. »Was wir heute getan haben, geschah auf Geheiß des Piscators. Wenn du die Qualität seiner Befehle anzweifelst, zweifelst du die Entscheidungsfähigkeit unseres obersten Führers an. Ist das so?«
»Sie unterstellen mir hier haltlose Dinge. Ich habe die gegebenen Befehle befolgt, sonst nichts. Ich bin nicht 25.000 Lichtjahre gereist, um an einer Treibjagd teilzunehmen. Es ging alleine darum zu verhindern, dass die Mnaah in die Zugriffszone eindringen, und das habe ich getan. Wenn Sie mit dem Wie ein Problem haben, können wir das gerne vor der Admiralität ausdiskutieren.«
Juanes beugte sich vor, als warte er auf einen geeigneten Augenblick, ihr mit seinen scharfen Zähnen die Kehle zu zerfetzen. »Offiziere wie du sind es, die das Gefüge der Heiligen Weltkirche gefährden. Die Aufgabe von Offizieren wie mir ist es, deinesgleichen aufzuspüren und aus den Reihen der Führungsriege zu entfernen.«
Nadja lächelte schal. »Die einzige Aufgabe, der ich mich verschrieben habe, ist, die Zugriffszone vor Unheil zu bewahren. Und seien Sie sich gewiss, Herr Flottillenadmiral, die werde ich erfüllen, solange man mich lässt.«
Zornige Falten legten sich über Juanes‘ Gesicht. Er musterte Nadja für strafende Sekunden, schnippte mit den Fingern und sein Steward erschien an seiner Seite.
»Tragen Sie den nächsten Gang auf und bringen Sie mir einen doppelten Single Malt. Und wenn diese Person und ihr Erster Offizier beschließen, unsere Runde zu verlassen, lassen Sie alles andere stehen und geleiten Sie sie hinaus!«
Zufrieden trank Nadja von ihrem Wein. Sie ent­schied, das Essen bis zum letzten Gang auszukosten.

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Schlachtschiff Johannes, 16. November 2503

Nadja betrachtete die silbernen Rangabzeichen an den Ärmeln ihrer neuen Uniform. Nach bestandener Prüfung hatte sie die rot-blaue Kadettenkluft ablegen und den feinen weißen Stoff der Leutnantsuniform überstreifen dürfen. Die Jahre der Ausbildung waren vorbei. Sie war stolz auf sich. Nun war sie ein waschechter Zaddikim. Ihr erster Einsatzbefehl hatte sie auf das Schlachtschiff Johannes beordert, so, wie sie es wünschte.
Sie musterte den Personaloffizier auf der anderen Seite des Schreibtisches. Er blätterte in ihrer Akte, strich hin und wieder etwas darin an, dann hob er den Blick. »Sie haben die Akademie mit Auszeichnung abgeschlossen. Haben Sie keine Gelegenheit bekommen, einen Verwendungswunsch zu äußern?«
»Sicher habe ich das«, antwortete sie. »Ich hatte die Wahl, auf der Jesus zu dienen oder auf der Johannes
»Und wieso haben Sie sich für unser Schiff entschieden? Auf der Jesus würden Sie wahrschein­lich erheblich schneller vorankommen.«
»Ich möchte etwas im strategischen Bereich machen, Herr Oberleutnant. Auf der Johannes ist der Posten des Waffenoffiziers ausgeschrieben. Auf der Jesus hätte ich entweder die Stelle des zweiten Navigationsassistenten oder die des Zuarbeiters des technischen Sicherheitsoffiziers bekommen. Mit Verlaub, das ist mir zu wenig Verantwortung.«
Oberleutnant Stefan Kallenberg grinste. »Seien Sie mal froh, dass bloß ich das gehört habe. Es gäbe alleine hier an Bord mindestens zehn Offiziere, die sich nach den Posten, die Sie eben erwähnt haben, alle Finger ablecken würden. Die würden Ihnen Ihre Haltung vermutlich als arrogant und vielleicht auch ein bisschen naiv auslegen. Und ich befürchte, wenn Sie unseren geschätzten Ersten Offizier das erste Mal in Aktion erleben, werden Sie nichts so sehr bereuen wie Ihren Entschluss, hierhergekommen zu sein.« Er schloss ihre Akte und faltete die Hände ineinander. »Aber gut, es ist Ihre Entscheidung. Ich teile Sie hiermit der Waffensektion II zu. Vorerst werden Sie mit Stabsbootsmann Frank Wilmers arbeiten, der Sie in den kommenden Tagen an unseren Waffensyste­men ausbilden wird. In zwei Wochen werden Sie so weit sein, Ihren heiß begehrten Posten als Waffenoffi­zier auf der Brücke zu übernehmen. Willkommen an Bord der Johannes, Frau Kolesnikowa.«
Er stand auf und streckte ihr die Hand entgegen. Sie nahm sie an und schüttelte sie. »Danke, Herr Oberleutnant.«
»Ich führe Sie jetzt ein bisschen herum, damit Sie Mannschaft und Schiff kennenlernen. Es ist besser, wenn man Sie schon mal gesehen hat. Nicht dass irgendein übereifriger Kadett Sie aus Versehen für einen Eindringling hält und über den Haufen schießt.«
»Davon gehe ich nicht aus. Nach Allgemeiner Dienstvorschrift BV 1 Nr. 17 Absatz 4 Satz 1 ist der mutmaßliche Eindringling durch die Aufforderung, sich auszuweisen, aufzuhalten und …«
Stefan Kallenberg lachte laut auf. Irritiert verstummte Nadja.
»Vergeben Sie mir. Ich vergaß für einen Augen­blick, was für ein ausgezeichneter Soldat Sie sind. Es ist nur … Sie vertrauen etwas zu stark auf die Einhaltung der Vorschriften, Frau Kolesnikowa. Wo die Angst regiert, rücken diese manchmal in den Hintergrund.«
»Welche Angst?«
Er musterte sie für Augenblicke, schüttelte dann aber den Kopf. »Vergessen Sie’s. Ich hätte das nicht sagen sollen. Das war dumm von mir.« Er nickte zum Ausgang seines Büros. »Kommen Sie. Wir haben Glück. Die meisten sind momentan zu Tisch. So erwischen wir sie auf einen Schlag und müssen nicht alles X-mal wiederholen.«
Einladend streckte er die Hand aus und schob Nadja in den Flur. Ein freundlicher Blick seiner warmen Augen gab ihr das Gefühl, ihm vertrauen zu können, auch wenn sie seine Äußerungen davor etwas verun­sicherten.

Die Vorstellungsrunde dauerte länger, als Nadja erwartet hatte. Nachdem sie die Mannschafts- und die Unteroffiziermesse besucht hatten, die Brücke, wo sich die meisten Offiziere aufhielten, und schließlich die Offiziermesse, um auch den Rest von ihnen zu treffen, beschloss Oberleutnant Kallenberg, ihr das Schiff zu zeigen. Er ließ keinen Sektor aus. In seiner ruhigen, freundlichen Art erklärte er ihr die Aufgaben der einzelnen Teams und sie merkte, dass sie es mochte, wie er sprach, sie dabei ansah und gelegentlich wie zufällig berührte.
Er war ein gut aussehender Mann. Mittelgroß, schlank, das dunkelblonde Haar trug er wie alle an Bord zu einem Flattop geschnitten, militärischer Bürstenhaarschnitt mit einer Höchstlänge im unteren Millimeterbereich. Er hatte eine schöne Stimme, nicht tief, aber warm, leise, unaufdringlich. Und er schien gerne zu lächeln. Jedenfalls tat er das jedes Mal, wenn sich ihre Blicke trafen.
Es war fast Abend, als die Führung zu Ende war. Kallenberg brachte Nadja zu ihrer Unterkunft.
»Hätten Sie Lust, mich nachher in die Offiziermesse zu begleiten?«, fragte er mit schief gelegtem Kopf.
Das hätte sie gerne getan. Aber in ihrer Kabine warteten einige Bücher, die sie bei ihrem Dienstantritt vom Sicherheitsoffizier auf ihre Datenfolie gespielt bekommen hatte. Organisationsvorgaben, Bordvor­schriften, Allgemeine Handlungsanweisungen – sie wollte all das bis zum nächsten Morgen wenigstens quergelesen haben. Entschuldigend antwortete sie: »Ich habe leider noch ein wenig zu tun. Aber wenn Sie möchten, können wir das ein anderes Mal nachholen. Wir werden uns ja sicher noch häufiger begegnen.«
»Das hoffe ich doch«, sagte er und schenkte ihr wieder dieses einnehmende Lächeln. »Dann wünsche ich Ihnen eine gute erste Nacht auf der Johannes
»Gute Nacht, Herr Oberleutnant. Und danke.«
Er nickte ihr zu, drehte sich um und ging. Sie sah ihm nach, bis er um eine Ecke des langen Flurs bog.

Der Auftrag

 

Rom, 9. Juli 2521

Der Piscator heftete Nadja den Dankbarkeitsorden »Nicander und Marcian« an die Brust, eine von vielen nach irgendwelchen Heiligen benannten Auszeichnun­gen, die Nadja nicht mehr bedeutete, als ihre Namensgeber der Geschichtsschreibung. »Du hast gute Arbeit geleistet, meine Tochter. Die Heilige Weltkirche und die Völker, die sich unter ihren Schutz begeben haben, brauchen die Mnaah nun nicht mehr zu fürchten.« Er setzte sich auf seinen Thron zurück, verschränkte die fleischigen Hände ineinander und musterte sie zufrieden.
Nadjas Kiefer mahlten. »Sie mussten sie auch vorher nicht fürchten.«
Er hob die Brauen.
»Die Mnaah haben uns nicht bedroht. Sie sind nicht die Tremnati oder die Oloro. Ich hätte lieber tausend Jäger aus Hisnas Geschwadern abgeschossen oder mein Schiff mit der Teerhaut der Oloro gestrichen, als auch nur einem dieser armen Leute den Zutritt zur Zugriffszone zu verwehren. Die wenigen, die es schafften, nach dem Abschuss ihres Führungsschiffes zu fliehen, sind nun geradewegs auf dem Weg in ihr Verderben. Wir alle wissen, wie es in den Resten der Canis-Major-Galaxie zugeht. Sie werden dort keine Zuflucht finden.«
»Wir haben keinen Platz für sie in unseren Regionen. Es gibt keinen bewohnbaren Planeten, den wir nicht bevölkert haben, und wir wissen nicht, welche Krankheiten sie zu uns bringen würden, ließen wir zu, dass sie näher mit uns in Kontakt träten. Glaube mir, wir haben alles getan, um einen Ort zu finden, den wir ihnen zur Verfügung stellen können, aber es gibt ihn nicht. Nicht in der Zugriffszone. Ich habe ihnen das mitteilen lassen. Sie ignorierten es und kamen trotzdem. Ich musste den Befehl geben, sie zurückzuschlagen, auch wenn das für dich vielleicht schwer zu verstehen ist.«
»Es ist nicht schwer zu verstehen, sondern schlicht­weg unchristlich. Die Heilige Weltkirche darf sich nicht wie ein totalitärer Haufen benehmen, der sich in nichts von den faschistischen Regimen der Ver­gangenheit unterscheidet, und genau das tut sie!«
Der Piscator atmete tief ein. »Du weißt, dass ich dich für dein Verhalten bestrafen müsste. Ich bin nicht nur der Stellvertreter Christi auf Erden, sondern auch dein oberster Befehlshaber. Es steht dir weder zu, meine Entschlüsse zu hinterfragen, noch, sie zu kritisieren. Schon gar nicht in der unverblümten Weise, wie du es im Moment tust. Aber weil ich dich liebe, so wie ich alle Kinder Gottes liebe, schreibe ich diese unbedachte Äußerung deiner momentanen Anspannung zu. Ich weiß, dass du normalerweise besonnener bist. Ich will dir Gelegenheit geben, wieder zu dir zu finden. Begib dich auf das Anwesen deiner Tante und ruhe dich dort ein paar Tage aus. Die Abgeschiedenheit und Stille dort werden dir guttun. Und am Sonntag nach der Morgenandacht findest du dich bei deinem Schiff ein. Ich habe eine neue Mission für dich.«
»Tatsächlich? Wen soll ich diesmal für Euch ausmerzen, Euer Heiligkeit?«
Er reckte das Kinn vor. »Ehe du meine Geduld überstrapazierst, bitte ich dich, dich jetzt zu verabschieden. Ich habe heute noch weitere Aus­zeichnungen zu vergeben, an Männer, die ihren Dienst mit größerem Enthusiasmus absolvieren, als du das derzeit tust. Trübe meine Stimmung nicht, das haben diese Soldaten nicht verdient.«
Zweifelsfrei meinte er damit Juanes und Hagens. Denen hätte sie noch viel Schlimmeres gegönnt als einen schlecht gelaunten Piscator.
»Was deine Frage angeht, ich werde dich nach Tremna schicken und du wirst Hisna eine Botschaft von mir überbringen. Es ist eine sehr wichtige Bot­schaft. Und da du die Tremnati so gerne bezwingen willst, wird es dir diesmal eine Freude sein, meinen Auftrag auszuführen.«
Was wollte er? Den Krieg mit den Tremnati fortsetzen? Gerade jetzt, wo sie sich endlich eine Weile ruhig verhielten? Nadja verfluchte sich dafür, eben so forsch gewesen zu sein.
»Die Botschaft, mit der ich dich zu Hisna sende, lautet: Entweder er und sein Volk unterwerfen sich mir in den nächsten 40 Tagen oder wir werden ihre Welt vernichten.«
Nadja stockte der Atem. Was war in den Piscator gefahren? Tremna so herauszufordern … Bisher hatte niemand so einen ultimativen Schritt auch nur in Erwägung gezogen. Tremna war die einzige Welt, auf der Tremnati lebten. Sie auszulöschen bedeutete einen Genozid, und so gewalttätig und unbarmherzig die Angriffe dieses Volkes auf die menschlichen Kolo­nien in den Jahrhunderten des Krieges mit ihnen auch gewesen waren, diese Spezies samt und sonders zu vernichten, verstieße gegen alle christlichen Grund­sätze. Das und die unumstößliche Sicherheit, dass der tremnatische Führer Hisna alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel aufwenden würde, um zuvor größt­mögliche Verwüstung auf der Erde anzurichten, verboten von sich aus, einen solchen Plan auch nur anzudenken.
Aber mit dem Befehl, die Mnaah zurückzutreiben, hatte der Piscator gerade erst bewiesen, wie wenig ihm die Existenz mancher Völker bedeutete. Er teilte sie ein in jene, die ihm Gott unter seine Fittiche gegeben hatte, und jene anderen, die vielleicht nicht einmal von Gott wussten, den Piscator aber auf alle Fälle nicht als ihren obersten Machthaber anerkann­ten. Letztere hatte er bisher stets ›lediglich‹ bekriegt. Neuerdings schien ihm der Sinn danach zu stehen, sie auszurotten.
War es sein hohes Alter, das sein Denken so starrsinnig machte? Immerhin war er über 300 Jahre alt. Der älteste Mensch, der je gelebt hatte und bis jetzt nicht so wirkte, als wolle er seinen fleckigen, gelbhäutigen Körper in absehbarer Zeit verlassen. Für einen sündigen Moment fragte Nadja sich, ob Gott vergessen hatte, ihn abzuberufen. Es wäre vielleicht an der Zeit.
So abgeklärt sie konnte, erwiderte sie: »Ich bereite die Crew auf den Abflug vor, Euer Heiligkeit.«
Alexanders fettes Gesicht nickte gefällig. »Du darfst dich nun zurückziehen.«
Er streckte seine Hand aus. Nadja kniete nieder, küsste den Fischerring und erhob sich, um nach einem strammen Gruß zügig aus dem Saal zu eilen.

Muss ich als E-Book haben!

Nein, nicht von Amazon. Ich will ein E-Pub!

Ich will es, aber als Buch zum Anfassen!

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