Kobalthimmel

»Dein Lächeln haftet in meinen Gedanken wie gelebtes Glück. Kein Sternenhimmel, kein Sonnenaufgang reich an Farben kann je in mir entfachen, was dein Anblick erweckt.

Hätte ich nur einen einzigen Wunsch, er würde deinen Namen tragen.«

 

Sam las die handgeschriebenen Zeilen wieder und wieder. Obwohl er die Worte nicht verstand, berührten sie ihn auf sonderbare Weise.

»Was ist, Forsythe? Willst du hier Wurzeln schlagen?«

Er blickte sich um. Sein Sergeant machte ein ungeduldi­ges Gesicht. Ohne zu antworten, faltete Sam den Brief zusammen und steckte ihn in seine Jackentasche. Er strich dem Toten über die blickleeren Augen, um dessen Lider zu schließen. Zwischen den vollen Lippen des Mannes klebte Blut, auf seinen Wangen Spuren von Tränen.

 

 

London, Großbritannien

Argyle Street, November 1994

 

Das Kaminfeuer verteilte leise knisternd seine Wärme im Raum. Mit dem weichen Licht der bronzenen Tischlampe vermischte sie sich zu einem vollkommenen Gefühl der Geborgenheit. Samuel Forsythe saß in seinem Lesesessel im Erdgeschoss des dreistöckigen Hauses in der 23 Argyle Street, das seiner Familie seit Generationen gehörte. Veronika brachte ihm den Fünfuhrtee und seine Zigarren. Sie schenkte ihm eine Tasse des herb duftenden Earl Grey ein, dann reichte sie ihm den Humidor.

»Heute nicht, meine Liebe«, schüttelte er den Kopf.

»Ist alles in Ordnung mit dir?«

»Ja. Alles bestens. Aber ich habe ein leichtes Kratzen im Hals. Da wäre eine Zigarre kein Genuss.«

Sie räumte den Humidor beiseite. »Soll ich etwas aus der Apotheke besorgen?«

»Nein, es geht mir wirklich gut. Nur eine kleine Erkältung. Hat sich der verdammte Nebel endlich gelichtet? Ich möchte ein bisschen spazieren gehen.«

»Bedaure. Es ist immer noch, wie wenn man eine Wolke betritt.«

Sam schmunzelte. Das hatte sie damals auch gesagt, als sie mit ihm aus dem Flugzeug gestiegen war, an einem Tag wie diesem, neblig, klamm und kalt. Sie war stehen geblieben, hatte sich umgesehen und gesagt: »Wie wenn man eine Wolke betritt.«

Sie ließ sich ihm gegenüber in ihren Polstersessel sinken und schloss die Augen. Ihre von Altersflecken übersäte Haut schimmerte wächsern im Licht des Kaminfeuers. Hunderte feiner Härchen überzogen ihre schmalen Wangen wie ein Flaum. Das dünne weiße Haar lag kurz geschnitten in ihrer hohen Stirn. Sie seufzte leise. Dann schlief sie ein.

Er betrachtete sie lange. Die Erinnerung ließ diese alte Haut aufblühen und brachte ein strahlendes Gesicht zurück, lebhaft, frech und eingerahmt von langen Locken, die ungeordnet auf ihren Schultern lagen …

 

 

Braunschweig, Deutschland

Yorkshire Barracks, 3. Dezember 1945

 

»Obergefreiter Martin Zellner meldet sich zum Dienst!«

»Guter Witz, Forsythe! Seit wann können Sie Deutsch?«

Fragend musterte Martin das Gesicht des Offiziers.

»Ist mit Ihnen alles in Ordnung, Corporal?«

Was war das für eine Uniform, was für eine Sprache? Britisch? Vielleicht. Martin konnte kein Englisch. Was ging hier vor?

»Entschuldigen Sie, Herr …« Martin versuchte, den Rang seines Gegenübers von dessen Schulterklappen abzulesen, konnte die Abzeichen jedoch nicht eindeutig zuordnen. »… Hauptmann?«

Stechender Kopfschmerz fuhr ihm zwischen die Augen. Ihm wurde schwindlig. Ein Pfeifen kreischte in seinen Ohren, als sei ein Schuss neben ihm abgefeuert worden. Bleischweres Schwarz umfing ihn und zwang ihn zu Boden.

»Forsythe!«

 

Sam hörte seinen Namen. Jemand rüttelte ihn an den Schultern. Er versuchte die Augen zu öffnen. Seine Lider waren schwer. Nur mühsam gelang es ihm, ein paarmal zu blinzeln. Verschwommen erkannte er Lieutenant Masterson.

Mit aller Kraft versuchte Sam sich aufzurichten. Masterson half ihm. Sam wollte sprechen, doch alles, was er zustande brachte, war ein undeutliches »Was …?«

»Mann, Sie haben mir vielleicht einen Schreck eingejagt. Ist alles okay mit Ihnen?« Sam schwankte unsicher. »Setzen Sie sich. Kommen Sie, ich helfe Ihnen.« Masterson schob Sam zu dem Stuhl auf der Besucherseite seines Schreibtischs, ging auf die andere Seite und holte eine Flasche Scotch und ein Glas heraus. Nachdem er zwei Finger hoch eingeschenkt hatte, reichte er ihm den Drink. »Hier. Und jetzt sagen Sie mir, was gerade mit Ihnen los war.«

Sam leerte das Glas in zwei Zügen. Noch immer war er ziemlich neben sich. »Ich weiß es nicht, Lieutenant.« Immerhin gehorchte ihm seine Zunge wieder. Aber er hatte keine Ahnung, was passiert war. Konnte sich an nichts erinnern.

Masterson wartete. Als weiter nichts kam, brummte er: »Gehen Sie zum Sani und lassen Sie sich etwas für Ihren Kreislauf geben. Und ab jetzt reißen Sie sich zusammen. Wir haben alle schreckliche Dinge erlebt, aber Sie sind Fallschirmjäger! Sie können das ab, Mann. Wir alle können das ab.«

Sam nickte. Er stellte das Glas ab, stand auf und salutierte. »Sir! Melde mich ab zum …«

»Schon gut«, unterbrach Masterson mit einer wegwischenden Handbewegung. »Gehen Sie.«

 

In den Ardennen hatte Sam Daumen und Zeigefinger seiner linken Hand verloren. Das war der Grund, warum er jetzt nicht mit den Kameraden in Malaysia war, sondern auf eigenen Wunsch hier in Deutschland einen Schreibtischjob erledigte. Aber sein Kopf hatte damals nichts abbekommen.

»Haben Sie schon mal so einen Aussetzer gehabt?«, wollte der Arzt wissen.

Sam verneinte.

»Haben Sie irgendwas Besonderes bemerkt?«

Ja, diese Kopfschmerzen. Er war gerade über den Kasernenhof gegangen, weil er etwas mit der Küche abklären wollte, als er plötzlich diese Kopfschmerzen bekam. Ganz grässliche, ungewöhnliche Kopfschmerzen. Mehr zwischen den Augen als hinter der Stirn. Und dann – war da nur noch Schwärze. Aber wenn er dem Arzt davon erzählte …

Es hatte ihn eine Menge Überzeugungskraft gekostet, den Personalisten klarzumachen, dass er trotz der fehlenden Finger voll dienstfähig war. Er durfte sich keine Schwächen erlauben, wenn er weiter Soldat bleiben wollte. »Hab wohl zu wenig gegessen in den letzten Tagen. Eine Magen­verstimmung. Bin nur etwas angeschlagen, wird schon wieder.«

Der Doc nickte. Seine Augen sprachen offene Zweifel aus, aber sein Mund sagte: »Sehen Sie zu, dass Ihr Magen bald wieder in Ordnung kommt.« Er griff in seine Schreibtischschublade und holte ein Päckchen Tabletten heraus. »Eine morgens, eine abends und zwei Tage Bettruhe. Am Donnerstag treten Sie Ihren Dienst wieder an. Und jetzt ab auf Ihre Stube, Junge.«

Sam griff nach den Tabletten, schob sie ein, salutierte und machte, dass er nach draußen kam.

 

Sam war allein in der Viermannstube. Die anderen hatten noch Dienst. Er lag auf seiner Pritsche und starrte an die Decke. Unter dem Kopfkissen lag der Brief. In der Normandie hatte er ihn von einem deutschen Gefangenen übersetzen lassen, aber es war nicht nur sein Inhalt, der ihn so ergriff, sondern der Klang der Sprache, das Papier, auf dem er geschrieben war, die Geschichte, die er vielleicht in sich trug. Sam hatte ihn unzählige Male gelesen. Die Worte taten ihm gut. Wärmten ihn. Auch jetzt hatte er das Bedürfnis, in sie einzutauchen, die Schrift zu betrachten, sich vorzustellen, wie sie auf dieses Papier gekommen war. Verfasst im Banne unendlicher Zuneigung, vielleicht nach einem glücklichen Moment, den die beiden miteinander gehabt hatten. Vielleicht nach ihrer ersten gemeinsamen Nacht.

Obwohl er die Zeilen auswendig kannte, faltete er den Brief auf und las leise:

»Dein Lächeln haftet in meinen Gedanken wie gelebtes Glück. Kein Sternenhimmel, kein Sonnenaufgang reich an Farben kann je in mir entfachen, was dein Anblick erweckt.

Hätte ich nur einen einzigen Wunsch, er würde deinen Namen tragen.«

Dann weinte er stumm, ohne den Grund seiner Tränen zu kennen.

 

Mitten in der Nacht rüttelte jemand an Sams Arm: »Wach auf!«

Er öffnete die Augen, konnte aber den Mann im Dunkel des Zimmers nicht erkennen. Erst dachte er, es sei McCarthy, mit dem er sich das Stockbett teilte, doch als er das abgehackte Schnarchen im unteren Bett hörte, wusste er, dass McCarthy schlief.

Der Mann, der ihn geweckt hatte, saß auf der Bettkante und betrachtete ihn. Sam konnte seine weißen, geraden Zähne gegen die Dunkelheit leuchten sehen. Er schien zu lächeln.

»Du musst mich zu Veronika bringen.«

Sam rieb sich die Augen. Der Mann sprach Deutsch. Trotzdem verstand er ihn. Träumte er?

»Sie wartet auf mich.«

»Wer bist du?«, fragte Sam.

»Du hast meinen Brief.«

Jetzt erkannte er ihn, obwohl das schwache Mondlicht im Fenster kaum reichte, mehr als nur seine Konturen aus der Dunkelheit zu heben. Das ovale Gesicht, die vollen Lippen. Er streckte die Hand aus und berührte den Arm des Mannes. Es war ein Arm aus Fleisch und Blut. Ein sehr intensiver Traum.

»Wirst du? Bringst du mich zu Veronika?«

»Wenn du mir sagst, wie?« Sam wollte wissen, wie dieser Traum weiterging.

»Mit dir. In dir.«

Die Gestalt begann sich aufzulösen. Wurde durch­sichtiger, kam näher. Schien mit einem Mal zu schweben, stülpte sich über Sam und er spürte, wie er von ihr durchwirkt wurde wie von einem Gas, das es vermochte, durch die Haut zu dringen.

Mit einem Schrei fuhr er hoch.

Seine Kameraden schraken auf. »Ruhe!«, kam es von einem der Betten auf der anderen Zimmerseite, »Was ist los?«, von dem anderen. McCarthy rief: »Alles okay bei dir?«

»Ja«, murmelte Sam. »Alles okay.«

Ein würgendes Gefühl drückte auf seine Kehle. Ihm war, als spüre er den Schatten einer anderen Seele in sich.

 

Schon Mittwoch Mittag meldete Sam sich dienstfähig. Er hatte es auf der einsamen Stube nicht mehr ausgehalten. Nicht nur die leeren Betten, die kahlen grünen Zimmerwände und die Stille, die Untätigkeit und das Grübeln über das, was er in der vergangenen Nacht erlebt hatte, machten ihm zu schaffen, sondern auch Angst.

Er hatte diesen Deutschen nicht selbst getötet. Als sie die Stellung erreichten, war das Gefecht bereits vorüber gewesen. Sie hatten die Schützengräben nach Überlebenden abgesucht und er fand den Mann, tot an der Wand des Grabens lehnend, den Brief in der herabgesunkenen Hand.

Es gab Männer, die sich vor der Rache der Toten fürchteten, besonders, wenn es Deutsche waren. In ihnen sahen einige das personifizierte Böse. Sam tat das nicht. Er wusste, dass die Deutschen an sich keine Teufel waren – auch wenn sie Schreckliches getan und zugelassen hatten. Aber im Angesicht ihrer Niederlage schien ihr Hochmut gebrochen. Kraftlosigkeit und das Bewusstsein, den Gewinnern dieses Krieges ausgeliefert zu sein, brachten die Sehnsucht nach Frieden in ihnen zum Vorschein, und bei vielen auch die Hoffnung auf Vergebung.

Die Angst, die Sam vor dem toten Mann hatte, kam nicht, weil er sich vor dessen Rache fürchtete, sondern, weil er ihm in seinem Traum so real erschienen war. Viel zu real.

 

Nach Feierabend saß Sam mit seinen Kameraden in der Bar, in der sie sich jeden Abend trafen. Sie hatten Spaß, unterhielten sich angeregt und einer erzählte von seinem Mädchen zu Hause und dass er sie bei seinem nächsten Urlaub heiraten wollte. Plötzlich brauste ein leises Rauschen in Sams Schläfen. Es wurde stärker, schwoll zu einem Tosen an, die Welt um ihn herum verschwamm. Die Münder seiner Kameraden bewegten sich, lachten, erzählten Geschichten – er hörte nur Wortfetzen durch den Sturm in seinem Kopf und begann, sich anders zu fühlen. Anders zu denken.

»Raus hier, solange du noch die Kontrolle über dich hast!«, durchzuckte es ihn.

Er warf zwei Pfund auf den Tresen und machte, dass er aus der Bar kam. Draußen angekommen rannte er die unbeleuchteten Gassen entlang, ohne zu wissen wohin, stolperte, fiel. Kieselsteine bohrten sich in seine Handflächen. Er rappelte sich auf, rannte weiter, dachte an Geschützfeuer, Granaten, die neben ihm explodierten, schreiend sterbende Kameraden. An die Tränen seiner Mutter, als er seine Einberufung erhalten hatte. An seinen Vater, der nicht aus Russland zurückgekommen war. An seine Schwester, irgendwo in Berlin geblieben. An Veronika. An ihr Lächeln. Daran, dass er so verdammt feige gewesen war.

Er musste zu ihr. Jetzt!

Der Bahnhof kam in Sichtweite. Martin rannte darauf zu. Zwar sah er Soldaten in britischen Uniformen, aber etwas sagte ihm, dass das in Ordnung war. Wie in einem Traum, in dem manche Dinge einfach sind wie sie sind. Er wollte an ihnen vorbeistürmen, als sie sich ihm in den Weg stellten und irgendwas zuriefen. Er verstand sie nicht. Sie wiederholten das Gesagte.

»Ich muss zu meinem Mädchen«, erklärte er. »Das versteht ihr doch, oder?«

Die Soldaten blickten einander verwirrt an. Martin wollte den Moment nutzen, um einfach weiterzurennen, da wurde er am Arm gepackt.

»Was soll das? Hey, verdammt, es ist wichtig. Ich muss jetzt zu ihr. Lasst mich durch!«

Die beiden redeten auf ihn ein. Klangen wütend. Martin wollte sich losreißen, doch einer drehte ihm den Arm auf den Rücken. Zwei weitere Soldaten kamen herbeigeeilt. Die Männer sprachen hektisch miteinander. Plötzlich zielten Pistolenläufe auf ihn. Er hörte auf sich zu wehren. Spürte einen bohrenden Schmerz in seiner Stirn. Lautes Rauschen toste in seinen Ohren. Ihm wurde schwarz vor Augen.

 

Die Zellentür wurde von klirrenden Schlüsseln aufge­schlossen. Lieutenant Masterson trat ein. Sam sprang auf und salutierte.

Masterson betrachtete ihn mit zusammengekniffenen Augen. »Junge, Junge, Sie können froh sein, dass Sie so gute Freunde haben.« Er musterte Sam von Kopf bis Fuß, dann nickte er. »Rühren!«

Sams Hand sank herab. Den Kopf geradeaus gestreckt bewegte er sich nicht, als Masterson ihn mit auf dem Rücken verschränkten Händen umschritt. »Woher können Sie so gut Deutsch, Forsythe?«

»Verzeihung, Sir?«

»Wollen Sie mich verarschen, Mann?«

Sam zuckte zusammen und rief: »Nein, Sir! Ich kann kein Deutsch, Sir!«

»Aha! Und welche Sprache war das dann, in der Sie mit den Kameraden am Bahnhof gesprochen haben? Latein?«

Sam wusste es nicht. Er wusste nicht, dass er mit Kameraden am Bahnhof gesprochen hatte. Nicht mal, dass er überhaupt dort gewesen war. Alles, was er wusste, war, dass er aus der Bar gerannt war. Danach herrschte Finsternis in seinem Gedächtnis, ein großes Loch, an dessen Wänden unangenehme Gefühle klebten.

»Ich kann mich nicht erinnern«, gestand er.

»Wer ist Martin Zellner?«

Sams Hände verkrampften sich. »Ich weiß nicht, Sir.«

Mastersons Augen blitzten wütend. »Hören Sie zu, Corporal. Sie sind vor zwei Tagen in meinem Büro gestanden und meldeten sich – auf Deutsch – als Obergefreiter Martin Zellner zum Dienst. Wissen Sie das etwa auch nicht mehr?«

Sam senkte den Blick und schüttelte schweigend den Kopf.

»Antworten Sie, Forsythe!«

»Sir, ja, ich weiß es nicht mehr. Ich habe keine Erinnerung daran!«

»Na gut.« Masterson presste die Lippen aufeinander. »Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder der Krieg hat Sie doch schlimmer erwischt, als es bisher den Anschein hatte, und Sie sind komplett durchgeknallt oder Sie sind ein Spion. Aber falls das so wäre, wären Sie ein verdammt dämlicher Spion. Was wollten Sie am Bahnhof, Forsythe?«

Zu Veronika.

»Ich habe keine Ahnung, Sir. Vielleicht hätte ich doch noch den halben Tag im Bett bleiben sollen. Vielleicht hatte ich Fieber und habe fantasiert.«

Lieutenant Masterson reckte das Kinn vor und betrachtete Sam argwöhnisch. »Wie gesagt, Sie können froh sein, so gute Freunde zu haben. Colonel Jefferson möchte, dass Sie mit dem nächsten Truppentransport nach Hause reisen und bis zur Wiederherstellung ihrer Gesundheit in der Heimat bleiben. Ich möchte, dass Sie wissen, dass ich ihm widersprochen habe. Ich möchte, dass Sie wissen, dass ich Sie stattdessen lieber unter Arrest gestellt und verhört hätte, um herauszufinden, was Sie so schlecht vor uns verbergen. Aber der Colonel hat sich aus Gründen, die ich nicht nachvollziehen kann, für Sie verbürgt, und ich nehme an, dass hat etwas mit Ihrer Familie und deren Verbindungen zu tun. Sei’s drum, ich kann es nicht ändern. Aber treten Sie mir bis zu Ihrer Abreise nicht mehr unter die Augen. Ihre Papiere liegen bereit. Packen Sie und verlassen Sie bis morgen Abend meine Kaserne!«

Er wandte sich ab und ging.

Fassungslos starrte Sam ihm nach. Binnen Sekunden zerbrachen seine Träume. Er war Soldat aus Überzeugung. Gehandicapt oder nicht, er wollte seinem Land dienen. Wie sollte er das nach diesem Tag weiter dürfen?

War dies die Rache des Deutschen? Dass er all seine Hoffnungen, all seine Träume von einem eigenständigen Leben, befreit von den Zwängen der Familie, die ihn als Kaufmann sehen wollte und sein Soldatendasein nicht akzeptierte, zunichte machte, indem er Besitz von ihm ergriff? Was geschah mit ihm, wenn Zellner in ihm war? Wo war er selbst dann? Warum hatte er keine Erinnerung an die Dinge, die er in dieser Zeit tat? Und wie sollte er verhindern, dass das wieder und wieder geschah?

Der Brief!, schoss es ihm durch den Kopf. Es war dieser Brief! Wenn er ihn vernichtete, war er vielleicht auch Martin Zellner los.

Sam rannte durch die offen stehende Zellentür, vorbei an Wachen, die ihn befremdet ansahen, aber nicht aufhielten, raus aus dem Verwahrungstrakt und quer über den Kasernenhof. Keuchend kam er an seinem Unterkunfts­gebäude an, hastete die Treppen empor, stieß die Tür zu seiner Stube auf und stürzte an sein Bett. In einem Anfall von entsetzlicher Wut riss er das Kopfkissen von der Matratze, den Brief vom Laken … aber gerade, als er im Begriff war, das Papier zu zerfetzen, sah er diese verwaschene Schrift, die zerlaufene Tinte, sah volle Lippen einen Mund ohne Gesicht küssen, spürte regelrecht, wie dieser Kuss sich anfühlte, so tief wohnte Martin bereits in ihm. Und so sehr er es auch wollte, so sehr er diesen Mann auch für das, was er mit ihm machte, hasste, er konnte den Brief nicht zerstören.

Seine Hände begannen zu zittern. Er ließ sich auf McCathys Bett sinken, faltete den Zettel auf und las stumm die Zeilen. Tränen rollten über seine Wangen, weil er fast das Schönste vernichtet hätte, was ihm in den letzten Jahren zuteil geworden war. An dem er sich in endlosen Kriegsnächten wiederbelebt hatte, um das seine Fantasien dicke Ranken aus Geschichten gesponnen hatten. Diese Zeilen hatten ihm so viel Trost gespendet, dass er trotz allen Leides, trotz aller Schrecken und aller ausgestandenen Ängste immer jene tiefe Zuversicht gespürt hatte, die ihm Gewissheit gab, dass jeder, Freund wie Feind, ein Mensch mit Gefühlen und der Fähigkeit zu lieben war. Und daran machte er all seine Hoffnungen auf einen wirklichen – einen ehrlichen – Frieden nach diesem unsäglich grausamen Krieg fest.

Sam faltete den Brief zusammen. Er erhob sich, ging zu seinem Spind und öffnete das Schloss.

Neben seiner Dienstkleidung hing ein beigefarbener Anzug. Er hatte ihn in Frankreich schneidern lassen und die Postanschrift seiner Stammeinheit angegeben. Nach monatelangen Umwegen war er schließlich in einem zerschundenen, aber ungeöffneten Paket Ende September hier in Braunschweig zugestellt worden. Heute war der Tag gekommen, an dem Sam wusste, wann er ihn das erste Mal tragen würde.

 

Mit seinem Seesack über der Schulter machte Sam sich auf den Weg zum Bahnhof. Er hatte dreißig Pfund in der Tasche, seine Papiere und eine Bescheinigung seiner Einheit, die ihn berechtigte, jeden zur Verfügung stehenden Zug Richtung Heimat zu nehmen.

Beim Anblick des Bahnhofs rang er mit sich. Er fragte sich, ob es richtig war, was er plante, und welche Folgen es für ihn haben mochte. Aber hatte er überhaupt eine Wahl?

Da war eine Liebe, so groß, dass ein Mann ihretwegen keine Totenruhe fand. Ihn heimsuchte, sich seiner bemächtigte …

Durfte er vor so etwas fliehen? Konnte er das?

Sie wartet auf mich.

Kurz vor dem Bahnhof machte er einen Schwenk nach links und verschwand im Grau der in Trümmern liegenden Stadt.

Muss ich als E-Book haben!

Nein, nicht von Amazon. Ich will ein E-Pub!

Ich will es, aber als Buch zum Anfassen!

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Jenseits von Ninive

Ein Science-Fiction von E.M. Jungmann

 

Der Mensch ist nicht dafür gemacht, zu den Sternen zu sehen. Wenn er sich lange den Hals nach ihnen ver­dreht, schmerzt sein Genick. Darum war Nadjeshda Iwanowna Kolesnikowa Soldat der Sternenflotte der Heiligen Weltkir­che geworden. Sie wollte in das Antlitz Gottes blicken, ohne sich dabei zu verrenken.

Die Blutnacht der Mnaah

Schlachtschiff Matthäus, 7. Juli 2521

Eine unsichtbare Grenze zerschnitt das All am Rücken des Großen Hundes wie ein düsterer Todesgraben. Eine Barriere, von der nur wusste, wer entweder hinter ihr wohnte oder sie von außen zu überwinden versuchte. Drei Schlachtschiffe warteten kampfbereit auf ihrer Innenseite, flankiert von elf Kreuzern und rund 200 Jägern. Ihr Gegenüber war kein mächtiger, Angst einflößender Gegner. Was hier knapp 8000 Parsec von der Erde entfernt vor sich ging, sollte von manchen später als »Die Blutnacht der Mnaah« bezeichnet werden. Nadjeshda Iwanowna Kolesni­kowa, Kapitän des Schlachtschiffes Matthäus, war einer ihrer Zeugen, und wie ihre Kameraden schwieg sie lange Zeit über den Vorfall. Aber etwas ge­schah an diesem 7. Juli 2521 mit ihr. Etwas in ihr wurde wachgerüttelt.

Die quaderförmigen Flüchtlingsschiffe der Mnaah glitten wie gewaltige Stelen auf den Zaddikim-Kampfverband zu. Kosmischen Spie­geln gleich re­flektierten sie in bizarrer Schönheit die verschmierten Sonnen des sterbenden Canis-Major-Zwerges. Sie flogen in starrer Formation, als seien sie fest miteinander verbunden. Jedes von ihnen trug 40.000 ver­zweifelte Mnaah in sich. Aber ihr Ziel sollte nicht die ersehnte Rettung sein – sondern ihr Tod.
Das Mittlere der drei Zaddikim-Schlacht­schiffe, die Petrus, trug das Flaggschiffzeichen auf seinem langen Rücken; ein gewaltiges blutrotes Fischsymbol. Sein Kommandant, Flottillen­admiral Xabier Juanes, gab Befehl, bis zur Vernichtung des Feindes zu feuern, falls die Mnaah in die Zugriffszone eindrangen. Als die Order über den Hauptmonitor der Matthäus hereinkam, ballte Nadja Kolesnikowa die Faust. Sie wusste, dass die Mnaah nicht auf ihrer Seite der Grenze bleiben würden. Sie hatten keine Wahl. Ihre Galaxie löste sich immer schneller auf. Die einzigen beiden Planeten, auf denen humanoides Leben möglich gewesen war, verdampften in ihren zerflie­ßenden Sonnen.
Sie riefen die Petrus. Der Kapitän des Mnaah-Führungsschiffes flehte Juanes an, ihn und seine Leute durchzulassen. »Wir sind die letzten Überlebenden unseres Volkes. Wenn Sie uns zurückschlagen, löschen Sie unsere Spezies aus!«
Nadja fror bei Juanes‘ Antwort: »Jedes Ihrer Schiffe, das auch nur die Nase in unseren Sektor streckt, wird in einem gleißenden Feuerball aufgehen, dessen Licht bis zur Erde reicht. Sie wurden gewarnt, nicht hierherzukommen. Das All ist groß genug. Sie hätten sich eine andere Zuflucht suchen können. Wenn Ihnen das Überleben Ihres Volkes wirklich so viel bedeutet, drehen Sie jetzt ab und entfernen sich von unserer Grenze.«
»Wir können nicht!«, rief der Mnaah-Kapitän. »Wir haben nicht genug Vorräte und Energie, um eine Reise ins Ungewisse zu wagen. Ich bitte Sie, lassen Sie uns durch. Sobald wir unsere Schiffe für eine Weiterreise ausgerüstet haben, werden wir die Zugriffszone wieder verlassen, das schwöre ich Ihnen, Flottillenadmiral Juanes. Bitte, geben Sie uns eine Chance, unsere Leben, unser Volk zu retten.«
Die Mnaah-Schiffe glitten weiter auf die Zaddikim zu. Auf dem Hauptschirm der Matthäus wurden sie als rote Dreiecke dargestellt, die Grenze der Zugriffszone als blaue, bogenförmige Linie. Sobald eines der Dreiecke diese Linie durchbrach, würde es zu blinken beginnen und frei für den Abschuss sein.
Nadja schloss die Augen. Tief drinnen war ihr danach, beizudrehen und ihre Waffen auf die Petrus zu richten. Fast noch schlimmer als Juanes‘ Order war, dass er eine satanische Freude daran hatte, die Zivilisten in den Flüchtlingsschiffen abzuschlachten. Das war keine bloße Annahme. Nadja hatte lange genug unter ihm gedient, um es sicher zu wissen. Er kannte kein Erbarmen. Galt es irgendwo einen Aufstand besonders brutal niederzuschlagen oder eine »vom christlichen Weg abgekommene« Zivilisation in den Schoß der Heiligen Weltkirche zurückzuholen, wurde Xabier Juanes eingesetzt.
Nadja riss sich zusammen. Sie war Offizier der Zaddikim. Sie hatte einen Eid auf das Neue Testament geschworen, dem Piscator Hominum, Alexander XI., die Treue zu halten und seine Befehle zu allen Zeiten zu befolgen. Und da Juanes einer seiner höchsten Offiziere war, musste sie ihn als Befehlshaber anerkennen – und seinen Weisungen gehorchen.
Das führende Dreieck berührte mit seiner Vorder­spitze die blaue Linie. Es blinkte rot auf. Nadjas Waffenoffizier sah sie fragend an. Sie nickte. »Feuer, Herr Nieves!«

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Juanes befahl, die Heimreise nur mit halber Feld­geschwindigkeit anzutreten. Elf der 20 Flücht­lingsschiffe waren vernichtet, neun entfernten sich, teils schwer angeschlagen. Juanes war der Ansicht, ihr Rückzug könne eine Finte sein. Darum wollte auch er sich nur scheinbar zurückziehen. Sie sollten noch eine Weile auf dem Schirm bleiben.
Wenige Stunden nach dem Gefecht befahl er Nadja und Kapitän Hagens vom Schlachtschiff Paulus auf das Flaggschiff.
»Ich habe keine Lust, mit diesem Schlächter an einem Tisch zu sitzen«, sagte Nadja, als ihr Erster Offizier, Kapitänleutnant Frederic Henson, sie an den Termin auf der Petrus erinnerte. »Mir wird übel, wenn ich nur an ihn denke.«
»Es wird sich nicht vermeiden lassen, der Einladung dennoch zu folgen, Frau Kapitän. Juanes ist ohnehin nicht gut auf Sie zu sprechen.«
»Das ist stark beschönigt, 1O. Er würde mich am liebsten als Galionsfigur vor sein Schiff binden. Wenigstens etwas, auf das ich mir was einbilden kann.«
Henson grinste schief. »Was ist eigentlich dran an dem Gerücht, dass Juanes Ihretwegen noch nicht Konteradmiral ist? Haben Sie ihn irgendwann mal mit etwas drangekriegt?«
»Das war nicht nötig«, antwortete sie. Sie ver­drängte die in ihr aufkommenden Bilder aus der Zeit, in der sie gemeinsam auf dem Schlachtschiff Johannes gedient hatten. »Er hat damals einfach dem Falschen ans Bein gepinkelt. Meinetwegen, ja, aber in erster Linie hat er versucht, seinen damaligen Kapitän hinters Licht zu führen.«
Als Henson sie fragend ansah, schüttelte sie den Kopf. Ihr war nicht danach, länger über diesen Mann zu sprechen, als es unbedingt notwendig war. Es lag schließlich 18 Jahre zurück.

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Um kurz nach 20 Uhr Bordzeit trafen Sie auf der Petrus ein. Nadja hatte keinen Wert darauf gelegt, pünktlich zu sein. Sie konnte auf Juanes‘ Selbst­beweihräucherungen verzichten, seine heroischen Reden darüber, wie großartig dieser Tag gelaufen war und wie heldenhaft sie die Mnaah zurückgeschlagen hatten. Was sie heute getan hatten, war ein Verbrechen. Die Ermordung Unschuldiger, die für niemanden eine Bedrohung waren.
Bis auf zwei Plätze am unteren Teil der langen Tafel waren alle Stühle belegt, als Nadja und Henson die Offiziermesse betraten. Juanes saß an der Stirnseite. Wie ein Feudalherrscher hatte er Speisen auftafeln lassen, die normalerweise auf einem Schlachtschiff nicht zu bekommen waren; Rehbraten, Wachteln, sogar Austern und Hummer. Champagner wurde ausgeschenkt, Port, uralter Whisky; auch auf der Erde nahezu unbezahlbar.
Man nahm keine Notiz von Nadja und Henson, als sie sich setzten. Juanes und Kapitän Hagens taten, als seien sie gar nicht da. Stattdessen ergingen sich die beiden Männer in derben Späßen, die selbst manch gestandenem Kerl die Röte auf die Wangen getrieben hätten.
Dass Nadja die einzige Frau in der Runde war, überraschte sie nicht. Juanes hasste Frauen. Sie waren für ihn nicht mehr als Lustobjekte, auf keinen Fall würdig, Offizier zu sein. Eine Frau, die das Pech hatte, auf die Brücke der Petrus versetzt zu werden, war in der Hölle angekommen. Sie wurde so lange von Juanes gequält, bis sie den Dienst bei den Zaddikim entweder freiwillig quittierte oder das Schicksal ihr andere Wege eröffnete, ihm zu entkommen. Manch eine Offizierin sollte sich aber auch schon das Leben genommen haben.
Als das Essen von der Ordonnanz vorgelegt wurde, schwoll der Geräuschpegel deutlich ab. Nadja musterte die Gesichter der Kameraden. Da war der Erste Offizier der Petrus, Kapitänleutnant Roger Farnsworth, mit dem sie jahrelang den Hörsaal in der Akademie geteilt hatte. Er warf ihr verstohlene Blicke zu, wagte aber nicht, mit ihr zu sprechen. Oberleut­nant Karl-Heinz Posnanzki, heute Sicherheitsoffizier; als sie ihn kennengelernt hatte, war er ein mehr oder minder aussichtsloser Kadett auf der Johannes gewesen. Jetzt hatte er es also tatsächlich bis zum Oberleutnant gebracht. Er musste Qualitäten besitzen, die außerhalb soldatischer Fähigkeiten zu finden waren. Michael Potomek – ihn kannte Nadja ebenfalls aus ihrer Zeit auf der Johannes. Damals war er Navigator gewesen, jetzt verriet seine Uniform, dass er inzwischen dem Maschinendeck angehörte. Er tat, als bemerke er nicht, wie sie ihn musterte. Zu guter Letzt sah sie in die blassen Augen des schweigsamen Pjotr Smirnow, den sie, wie Farnsworth, von der Akademie kannte. Er war noch genauso hager wie damals, genauso bleich, genauso wortkarg. Aber als Einziger hielt er ihren Blicken stand.
»Du hast dich heute ziemlich zurückhaltend gezeigt, als es um die Abwehr des Feindes ging, Kolesni­kowa«, sagte Juanes. Er brach knackend eine Auster auf. »Ich hätte etwas mehr Einsatz von dir erwartet.«
Nadja trank einen Schluck, richtete den Blick auf den verhassten Mann und entgegnete: »Der Befehl lautete, die Schiffe anzugreifen, die die Grenze zur Zugriffszone überschreiten. Das habe ich getan.«
»Aber es war absehbar, dass dem Führungsschiff weitere Schiffe folgen werden. Und mir schien, du hast gezögert, diese aufzuhalten.«
»Ich habe nicht gezögert, sondern gewartet, bis sie die Grenze tatsächlich überschritten. Hätten Sie und Kapitän Hagens sich ebenso verhalten, wären viel­leicht nur drei der Schiffe zerstört worden.«
»Schwingt da Kritik in deinen Worten, Kolesni­kowa?«
»So wenig wie Angriffslust in Ihren, Herr Flottillenadmiral.« Sie nahm ebenfalls eine Auster und brach sie auf, ohne Juanes‘ feindseligem Blick auszuweichen.
Xabier Juanes legte sein Besteck auf den Teller und tupfte sich den Mund ab. Er nahm einen Schluck Wein und sagte: »Es ist im Interesse der Heiligen Weltkirche, die Zugriffszone vor böswilligen Ein­dringlingen zu schützen. Wenn du dieser Aufgabe nicht gewachsen bist, solltest du dein Kommando niederlegen und einen sozialeren Beruf ergreifen. Setz dir eine Schwesternhaube auf und pflege Verwundete, wenn dir der Dienst an der Front zu hart ist, aber schwäche nicht unsere Schlagkraft.«
Nadja biss die Zähne zusammen und unterdrückte die Wut, die in ihr gärte. »Ich bin jederzeit bereit und in der Lage, die Zugriffszone gegen echte Bedrohungen zu verteidigen, Herr Flottillenadmiral. Aber wehrlose Zivilisten abzuschlachten gehört nun mal nicht zu den Dingen, für die ich ausgebildet wurde.«
Juanes presste die Lider zusammen. »Was wir heute getan haben, geschah auf Geheiß des Piscators. Wenn du die Qualität seiner Befehle anzweifelst, zweifelst du die Entscheidungsfähigkeit unseres obersten Führers an. Ist das so?«
»Sie unterstellen mir hier haltlose Dinge. Ich habe die gegebenen Befehle befolgt, sonst nichts. Ich bin nicht 25.000 Lichtjahre gereist, um an einer Treibjagd teilzunehmen. Es ging alleine darum zu verhindern, dass die Mnaah in die Zugriffszone eindringen, und das habe ich getan. Wenn Sie mit dem Wie ein Problem haben, können wir das gerne vor der Admiralität ausdiskutieren.«
Juanes beugte sich vor, als warte er auf einen geeigneten Augenblick, ihr mit seinen scharfen Zähnen die Kehle zu zerfetzen. »Offiziere wie du sind es, die das Gefüge der Heiligen Weltkirche gefährden. Die Aufgabe von Offizieren wie mir ist es, deinesgleichen aufzuspüren und aus den Reihen der Führungsriege zu entfernen.«
Nadja lächelte schal. »Die einzige Aufgabe, der ich mich verschrieben habe, ist, die Zugriffszone vor Unheil zu bewahren. Und seien Sie sich gewiss, Herr Flottillenadmiral, die werde ich erfüllen, solange man mich lässt.«
Zornige Falten legten sich über Juanes‘ Gesicht. Er musterte Nadja für strafende Sekunden, schnippte mit den Fingern und sein Steward erschien an seiner Seite.
»Tragen Sie den nächsten Gang auf und bringen Sie mir einen doppelten Single Malt. Und wenn diese Person und ihr Erster Offizier beschließen, unsere Runde zu verlassen, lassen Sie alles andere stehen und geleiten Sie sie hinaus!«
Zufrieden trank Nadja von ihrem Wein. Sie ent­schied, das Essen bis zum letzten Gang auszukosten.

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Schlachtschiff Johannes, 16. November 2503

Nadja betrachtete die silbernen Rangabzeichen an den Ärmeln ihrer neuen Uniform. Nach bestandener Prüfung hatte sie die rot-blaue Kadettenkluft ablegen und den feinen weißen Stoff der Leutnantsuniform überstreifen dürfen. Die Jahre der Ausbildung waren vorbei. Sie war stolz auf sich. Nun war sie ein waschechter Zaddikim. Ihr erster Einsatzbefehl hatte sie auf das Schlachtschiff Johannes beordert, so, wie sie es wünschte.
Sie musterte den Personaloffizier auf der anderen Seite des Schreibtisches. Er blätterte in ihrer Akte, strich hin und wieder etwas darin an, dann hob er den Blick. »Sie haben die Akademie mit Auszeichnung abgeschlossen. Haben Sie keine Gelegenheit bekommen, einen Verwendungswunsch zu äußern?«
»Sicher habe ich das«, antwortete sie. »Ich hatte die Wahl, auf der Jesus zu dienen oder auf der Johannes
»Und wieso haben Sie sich für unser Schiff entschieden? Auf der Jesus würden Sie wahrschein­lich erheblich schneller vorankommen.«
»Ich möchte etwas im strategischen Bereich machen, Herr Oberleutnant. Auf der Johannes ist der Posten des Waffenoffiziers ausgeschrieben. Auf der Jesus hätte ich entweder die Stelle des zweiten Navigationsassistenten oder die des Zuarbeiters des technischen Sicherheitsoffiziers bekommen. Mit Verlaub, das ist mir zu wenig Verantwortung.«
Oberleutnant Stefan Kallenberg grinste. »Seien Sie mal froh, dass bloß ich das gehört habe. Es gäbe alleine hier an Bord mindestens zehn Offiziere, die sich nach den Posten, die Sie eben erwähnt haben, alle Finger ablecken würden. Die würden Ihnen Ihre Haltung vermutlich als arrogant und vielleicht auch ein bisschen naiv auslegen. Und ich befürchte, wenn Sie unseren geschätzten Ersten Offizier das erste Mal in Aktion erleben, werden Sie nichts so sehr bereuen wie Ihren Entschluss, hierhergekommen zu sein.« Er schloss ihre Akte und faltete die Hände ineinander. »Aber gut, es ist Ihre Entscheidung. Ich teile Sie hiermit der Waffensektion II zu. Vorerst werden Sie mit Stabsbootsmann Frank Wilmers arbeiten, der Sie in den kommenden Tagen an unseren Waffensyste­men ausbilden wird. In zwei Wochen werden Sie so weit sein, Ihren heiß begehrten Posten als Waffenoffi­zier auf der Brücke zu übernehmen. Willkommen an Bord der Johannes, Frau Kolesnikowa.«
Er stand auf und streckte ihr die Hand entgegen. Sie nahm sie an und schüttelte sie. »Danke, Herr Oberleutnant.«
»Ich führe Sie jetzt ein bisschen herum, damit Sie Mannschaft und Schiff kennenlernen. Es ist besser, wenn man Sie schon mal gesehen hat. Nicht dass irgendein übereifriger Kadett Sie aus Versehen für einen Eindringling hält und über den Haufen schießt.«
»Davon gehe ich nicht aus. Nach Allgemeiner Dienstvorschrift BV 1 Nr. 17 Absatz 4 Satz 1 ist der mutmaßliche Eindringling durch die Aufforderung, sich auszuweisen, aufzuhalten und …«
Stefan Kallenberg lachte laut auf. Irritiert verstummte Nadja.
»Vergeben Sie mir. Ich vergaß für einen Augen­blick, was für ein ausgezeichneter Soldat Sie sind. Es ist nur … Sie vertrauen etwas zu stark auf die Einhaltung der Vorschriften, Frau Kolesnikowa. Wo die Angst regiert, rücken diese manchmal in den Hintergrund.«
»Welche Angst?«
Er musterte sie für Augenblicke, schüttelte dann aber den Kopf. »Vergessen Sie’s. Ich hätte das nicht sagen sollen. Das war dumm von mir.« Er nickte zum Ausgang seines Büros. »Kommen Sie. Wir haben Glück. Die meisten sind momentan zu Tisch. So erwischen wir sie auf einen Schlag und müssen nicht alles X-mal wiederholen.«
Einladend streckte er die Hand aus und schob Nadja in den Flur. Ein freundlicher Blick seiner warmen Augen gab ihr das Gefühl, ihm vertrauen zu können, auch wenn sie seine Äußerungen davor etwas verun­sicherten.

Die Vorstellungsrunde dauerte länger, als Nadja erwartet hatte. Nachdem sie die Mannschafts- und die Unteroffiziermesse besucht hatten, die Brücke, wo sich die meisten Offiziere aufhielten, und schließlich die Offiziermesse, um auch den Rest von ihnen zu treffen, beschloss Oberleutnant Kallenberg, ihr das Schiff zu zeigen. Er ließ keinen Sektor aus. In seiner ruhigen, freundlichen Art erklärte er ihr die Aufgaben der einzelnen Teams und sie merkte, dass sie es mochte, wie er sprach, sie dabei ansah und gelegentlich wie zufällig berührte.
Er war ein gut aussehender Mann. Mittelgroß, schlank, das dunkelblonde Haar trug er wie alle an Bord zu einem Flattop geschnitten, militärischer Bürstenhaarschnitt mit einer Höchstlänge im unteren Millimeterbereich. Er hatte eine schöne Stimme, nicht tief, aber warm, leise, unaufdringlich. Und er schien gerne zu lächeln. Jedenfalls tat er das jedes Mal, wenn sich ihre Blicke trafen.
Es war fast Abend, als die Führung zu Ende war. Kallenberg brachte Nadja zu ihrer Unterkunft.
»Hätten Sie Lust, mich nachher in die Offiziermesse zu begleiten?«, fragte er mit schief gelegtem Kopf.
Das hätte sie gerne getan. Aber in ihrer Kabine warteten einige Bücher, die sie bei ihrem Dienstantritt vom Sicherheitsoffizier auf ihre Datenfolie gespielt bekommen hatte. Organisationsvorgaben, Bordvor­schriften, Allgemeine Handlungsanweisungen – sie wollte all das bis zum nächsten Morgen wenigstens quergelesen haben. Entschuldigend antwortete sie: »Ich habe leider noch ein wenig zu tun. Aber wenn Sie möchten, können wir das ein anderes Mal nachholen. Wir werden uns ja sicher noch häufiger begegnen.«
»Das hoffe ich doch«, sagte er und schenkte ihr wieder dieses einnehmende Lächeln. »Dann wünsche ich Ihnen eine gute erste Nacht auf der Johannes
»Gute Nacht, Herr Oberleutnant. Und danke.«
Er nickte ihr zu, drehte sich um und ging. Sie sah ihm nach, bis er um eine Ecke des langen Flurs bog.

Der Auftrag

 

Rom, 9. Juli 2521

Der Piscator heftete Nadja den Dankbarkeitsorden »Nicander und Marcian« an die Brust, eine von vielen nach irgendwelchen Heiligen benannten Auszeichnun­gen, die Nadja nicht mehr bedeutete, als ihre Namensgeber der Geschichtsschreibung. »Du hast gute Arbeit geleistet, meine Tochter. Die Heilige Weltkirche und die Völker, die sich unter ihren Schutz begeben haben, brauchen die Mnaah nun nicht mehr zu fürchten.« Er setzte sich auf seinen Thron zurück, verschränkte die fleischigen Hände ineinander und musterte sie zufrieden.
Nadjas Kiefer mahlten. »Sie mussten sie auch vorher nicht fürchten.«
Er hob die Brauen.
»Die Mnaah haben uns nicht bedroht. Sie sind nicht die Tremnati oder die Oloro. Ich hätte lieber tausend Jäger aus Hisnas Geschwadern abgeschossen oder mein Schiff mit der Teerhaut der Oloro gestrichen, als auch nur einem dieser armen Leute den Zutritt zur Zugriffszone zu verwehren. Die wenigen, die es schafften, nach dem Abschuss ihres Führungsschiffes zu fliehen, sind nun geradewegs auf dem Weg in ihr Verderben. Wir alle wissen, wie es in den Resten der Canis-Major-Galaxie zugeht. Sie werden dort keine Zuflucht finden.«
»Wir haben keinen Platz für sie in unseren Regionen. Es gibt keinen bewohnbaren Planeten, den wir nicht bevölkert haben, und wir wissen nicht, welche Krankheiten sie zu uns bringen würden, ließen wir zu, dass sie näher mit uns in Kontakt träten. Glaube mir, wir haben alles getan, um einen Ort zu finden, den wir ihnen zur Verfügung stellen können, aber es gibt ihn nicht. Nicht in der Zugriffszone. Ich habe ihnen das mitteilen lassen. Sie ignorierten es und kamen trotzdem. Ich musste den Befehl geben, sie zurückzuschlagen, auch wenn das für dich vielleicht schwer zu verstehen ist.«
»Es ist nicht schwer zu verstehen, sondern schlicht­weg unchristlich. Die Heilige Weltkirche darf sich nicht wie ein totalitärer Haufen benehmen, der sich in nichts von den faschistischen Regimen der Ver­gangenheit unterscheidet, und genau das tut sie!«
Der Piscator atmete tief ein. »Du weißt, dass ich dich für dein Verhalten bestrafen müsste. Ich bin nicht nur der Stellvertreter Christi auf Erden, sondern auch dein oberster Befehlshaber. Es steht dir weder zu, meine Entschlüsse zu hinterfragen, noch, sie zu kritisieren. Schon gar nicht in der unverblümten Weise, wie du es im Moment tust. Aber weil ich dich liebe, so wie ich alle Kinder Gottes liebe, schreibe ich diese unbedachte Äußerung deiner momentanen Anspannung zu. Ich weiß, dass du normalerweise besonnener bist. Ich will dir Gelegenheit geben, wieder zu dir zu finden. Begib dich auf das Anwesen deiner Tante und ruhe dich dort ein paar Tage aus. Die Abgeschiedenheit und Stille dort werden dir guttun. Und am Sonntag nach der Morgenandacht findest du dich bei deinem Schiff ein. Ich habe eine neue Mission für dich.«
»Tatsächlich? Wen soll ich diesmal für Euch ausmerzen, Euer Heiligkeit?«
Er reckte das Kinn vor. »Ehe du meine Geduld überstrapazierst, bitte ich dich, dich jetzt zu verabschieden. Ich habe heute noch weitere Aus­zeichnungen zu vergeben, an Männer, die ihren Dienst mit größerem Enthusiasmus absolvieren, als du das derzeit tust. Trübe meine Stimmung nicht, das haben diese Soldaten nicht verdient.«
Zweifelsfrei meinte er damit Juanes und Hagens. Denen hätte sie noch viel Schlimmeres gegönnt als einen schlecht gelaunten Piscator.
»Was deine Frage angeht, ich werde dich nach Tremna schicken und du wirst Hisna eine Botschaft von mir überbringen. Es ist eine sehr wichtige Bot­schaft. Und da du die Tremnati so gerne bezwingen willst, wird es dir diesmal eine Freude sein, meinen Auftrag auszuführen.«
Was wollte er? Den Krieg mit den Tremnati fortsetzen? Gerade jetzt, wo sie sich endlich eine Weile ruhig verhielten? Nadja verfluchte sich dafür, eben so forsch gewesen zu sein.
»Die Botschaft, mit der ich dich zu Hisna sende, lautet: Entweder er und sein Volk unterwerfen sich mir in den nächsten 40 Tagen oder wir werden ihre Welt vernichten.«
Nadja stockte der Atem. Was war in den Piscator gefahren? Tremna so herauszufordern … Bisher hatte niemand so einen ultimativen Schritt auch nur in Erwägung gezogen. Tremna war die einzige Welt, auf der Tremnati lebten. Sie auszulöschen bedeutete einen Genozid, und so gewalttätig und unbarmherzig die Angriffe dieses Volkes auf die menschlichen Kolo­nien in den Jahrhunderten des Krieges mit ihnen auch gewesen waren, diese Spezies samt und sonders zu vernichten, verstieße gegen alle christlichen Grund­sätze. Das und die unumstößliche Sicherheit, dass der tremnatische Führer Hisna alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel aufwenden würde, um zuvor größt­mögliche Verwüstung auf der Erde anzurichten, verboten von sich aus, einen solchen Plan auch nur anzudenken.
Aber mit dem Befehl, die Mnaah zurückzutreiben, hatte der Piscator gerade erst bewiesen, wie wenig ihm die Existenz mancher Völker bedeutete. Er teilte sie ein in jene, die ihm Gott unter seine Fittiche gegeben hatte, und jene anderen, die vielleicht nicht einmal von Gott wussten, den Piscator aber auf alle Fälle nicht als ihren obersten Machthaber anerkann­ten. Letztere hatte er bisher stets ›lediglich‹ bekriegt. Neuerdings schien ihm der Sinn danach zu stehen, sie auszurotten.
War es sein hohes Alter, das sein Denken so starrsinnig machte? Immerhin war er über 300 Jahre alt. Der älteste Mensch, der je gelebt hatte und bis jetzt nicht so wirkte, als wolle er seinen fleckigen, gelbhäutigen Körper in absehbarer Zeit verlassen. Für einen sündigen Moment fragte Nadja sich, ob Gott vergessen hatte, ihn abzuberufen. Es wäre vielleicht an der Zeit.
So abgeklärt sie konnte, erwiderte sie: »Ich bereite die Crew auf den Abflug vor, Euer Heiligkeit.«
Alexanders fettes Gesicht nickte gefällig. »Du darfst dich nun zurückziehen.«
Er streckte seine Hand aus. Nadja kniete nieder, küsste den Fischerring und erhob sich, um nach einem strammen Gruß zügig aus dem Saal zu eilen.

Muss ich als E-Book haben!

Nein, nicht von Amazon. Ich will ein E-Pub!

Ich will es, aber als Buch zum Anfassen!

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