Kobalthimmel

»Dein Lächeln haftet in meinen Gedanken wie gelebtes Glück. Kein Sternenhimmel, kein Sonnenaufgang reich an Farben kann je in mir entfachen, was dein Anblick erweckt.

Hätte ich nur einen einzigen Wunsch, er würde deinen Namen tragen.«

 

Sam las die handgeschriebenen Zeilen wieder und wieder. Obwohl er die Worte nicht verstand, berührten sie ihn auf sonderbare Weise.

»Was ist, Forsythe? Willst du hier Wurzeln schlagen?«

Er blickte sich um. Sein Sergeant machte ein ungeduldi­ges Gesicht. Ohne zu antworten, faltete Sam den Brief zusammen und steckte ihn in seine Jackentasche. Er strich dem Toten über die blickleeren Augen, um dessen Lider zu schließen. Zwischen den vollen Lippen des Mannes klebte Blut, auf seinen Wangen Spuren von Tränen.

 

 

London, Großbritannien

Argyle Street, November 1994

 

Das Kaminfeuer verteilte leise knisternd seine Wärme im Raum. Mit dem weichen Licht der bronzenen Tischlampe vermischte sie sich zu einem vollkommenen Gefühl der Geborgenheit. Samuel Forsythe saß in seinem Lesesessel im Erdgeschoss des dreistöckigen Hauses in der 23 Argyle Street, das seiner Familie seit Generationen gehörte. Veronika brachte ihm den Fünfuhrtee und seine Zigarren. Sie schenkte ihm eine Tasse des herb duftenden Earl Grey ein, dann reichte sie ihm den Humidor.

»Heute nicht, meine Liebe«, schüttelte er den Kopf.

»Ist alles in Ordnung mit dir?«

»Ja. Alles bestens. Aber ich habe ein leichtes Kratzen im Hals. Da wäre eine Zigarre kein Genuss.«

Sie räumte den Humidor beiseite. »Soll ich etwas aus der Apotheke besorgen?«

»Nein, es geht mir wirklich gut. Nur eine kleine Erkältung. Hat sich der verdammte Nebel endlich gelichtet? Ich möchte ein bisschen spazieren gehen.«

»Bedaure. Es ist immer noch, wie wenn man eine Wolke betritt.«

Sam schmunzelte. Das hatte sie damals auch gesagt, als sie mit ihm aus dem Flugzeug gestiegen war, an einem Tag wie diesem, neblig, klamm und kalt. Sie war stehen geblieben, hatte sich umgesehen und gesagt: »Wie wenn man eine Wolke betritt.«

Sie ließ sich ihm gegenüber in ihren Polstersessel sinken und schloss die Augen. Ihre von Altersflecken übersäte Haut schimmerte wächsern im Licht des Kaminfeuers. Hunderte feiner Härchen überzogen ihre schmalen Wangen wie ein Flaum. Das dünne weiße Haar lag kurz geschnitten in ihrer hohen Stirn. Sie seufzte leise. Dann schlief sie ein.

Er betrachtete sie lange. Die Erinnerung ließ diese alte Haut aufblühen und brachte ein strahlendes Gesicht zurück, lebhaft, frech und eingerahmt von langen Locken, die ungeordnet auf ihren Schultern lagen …

 

 

Braunschweig, Deutschland

Yorkshire Barracks, 3. Dezember 1945

 

»Obergefreiter Martin Zellner meldet sich zum Dienst!«

»Guter Witz, Forsythe! Seit wann können Sie Deutsch?«

Fragend musterte Martin das Gesicht des Offiziers.

»Ist mit Ihnen alles in Ordnung, Corporal?«

Was war das für eine Uniform, was für eine Sprache? Britisch? Vielleicht. Martin konnte kein Englisch. Was ging hier vor?

»Entschuldigen Sie, Herr …« Martin versuchte, den Rang seines Gegenübers von dessen Schulterklappen abzulesen, konnte die Abzeichen jedoch nicht eindeutig zuordnen. »… Hauptmann?«

Stechender Kopfschmerz fuhr ihm zwischen die Augen. Ihm wurde schwindlig. Ein Pfeifen kreischte in seinen Ohren, als sei ein Schuss neben ihm abgefeuert worden. Bleischweres Schwarz umfing ihn und zwang ihn zu Boden.

»Forsythe!«

 

Sam hörte seinen Namen. Jemand rüttelte ihn an den Schultern. Er versuchte die Augen zu öffnen. Seine Lider waren schwer. Nur mühsam gelang es ihm, ein paarmal zu blinzeln. Verschwommen erkannte er Lieutenant Masterson.

Mit aller Kraft versuchte Sam sich aufzurichten. Masterson half ihm. Sam wollte sprechen, doch alles, was er zustande brachte, war ein undeutliches »Was …?«

»Mann, Sie haben mir vielleicht einen Schreck eingejagt. Ist alles okay mit Ihnen?« Sam schwankte unsicher. »Setzen Sie sich. Kommen Sie, ich helfe Ihnen.« Masterson schob Sam zu dem Stuhl auf der Besucherseite seines Schreibtischs, ging auf die andere Seite und holte eine Flasche Scotch und ein Glas heraus. Nachdem er zwei Finger hoch eingeschenkt hatte, reichte er ihm den Drink. »Hier. Und jetzt sagen Sie mir, was gerade mit Ihnen los war.«

Sam leerte das Glas in zwei Zügen. Noch immer war er ziemlich neben sich. »Ich weiß es nicht, Lieutenant.« Immerhin gehorchte ihm seine Zunge wieder. Aber er hatte keine Ahnung, was passiert war. Konnte sich an nichts erinnern.

Masterson wartete. Als weiter nichts kam, brummte er: »Gehen Sie zum Sani und lassen Sie sich etwas für Ihren Kreislauf geben. Und ab jetzt reißen Sie sich zusammen. Wir haben alle schreckliche Dinge erlebt, aber Sie sind Fallschirmjäger! Sie können das ab, Mann. Wir alle können das ab.«

Sam nickte. Er stellte das Glas ab, stand auf und salutierte. »Sir! Melde mich ab zum …«

»Schon gut«, unterbrach Masterson mit einer wegwischenden Handbewegung. »Gehen Sie.«

 

In den Ardennen hatte Sam Daumen und Zeigefinger seiner linken Hand verloren. Das war der Grund, warum er jetzt nicht mit den Kameraden in Malaysia war, sondern auf eigenen Wunsch hier in Deutschland einen Schreibtischjob erledigte. Aber sein Kopf hatte damals nichts abbekommen.

»Haben Sie schon mal so einen Aussetzer gehabt?«, wollte der Arzt wissen.

Sam verneinte.

»Haben Sie irgendwas Besonderes bemerkt?«

Ja, diese Kopfschmerzen. Er war gerade über den Kasernenhof gegangen, weil er etwas mit der Küche abklären wollte, als er plötzlich diese Kopfschmerzen bekam. Ganz grässliche, ungewöhnliche Kopfschmerzen. Mehr zwischen den Augen als hinter der Stirn. Und dann – war da nur noch Schwärze. Aber wenn er dem Arzt davon erzählte …

Es hatte ihn eine Menge Überzeugungskraft gekostet, den Personalisten klarzumachen, dass er trotz der fehlenden Finger voll dienstfähig war. Er durfte sich keine Schwächen erlauben, wenn er weiter Soldat bleiben wollte. »Hab wohl zu wenig gegessen in den letzten Tagen. Eine Magen­verstimmung. Bin nur etwas angeschlagen, wird schon wieder.«

Der Doc nickte. Seine Augen sprachen offene Zweifel aus, aber sein Mund sagte: »Sehen Sie zu, dass Ihr Magen bald wieder in Ordnung kommt.« Er griff in seine Schreibtischschublade und holte ein Päckchen Tabletten heraus. »Eine morgens, eine abends und zwei Tage Bettruhe. Am Donnerstag treten Sie Ihren Dienst wieder an. Und jetzt ab auf Ihre Stube, Junge.«

Sam griff nach den Tabletten, schob sie ein, salutierte und machte, dass er nach draußen kam.

 

Sam war allein in der Viermannstube. Die anderen hatten noch Dienst. Er lag auf seiner Pritsche und starrte an die Decke. Unter dem Kopfkissen lag der Brief. In der Normandie hatte er ihn von einem deutschen Gefangenen übersetzen lassen, aber es war nicht nur sein Inhalt, der ihn so ergriff, sondern der Klang der Sprache, das Papier, auf dem er geschrieben war, die Geschichte, die er vielleicht in sich trug. Sam hatte ihn unzählige Male gelesen. Die Worte taten ihm gut. Wärmten ihn. Auch jetzt hatte er das Bedürfnis, in sie einzutauchen, die Schrift zu betrachten, sich vorzustellen, wie sie auf dieses Papier gekommen war. Verfasst im Banne unendlicher Zuneigung, vielleicht nach einem glücklichen Moment, den die beiden miteinander gehabt hatten. Vielleicht nach ihrer ersten gemeinsamen Nacht.

Obwohl er die Zeilen auswendig kannte, faltete er den Brief auf und las leise:

»Dein Lächeln haftet in meinen Gedanken wie gelebtes Glück. Kein Sternenhimmel, kein Sonnenaufgang reich an Farben kann je in mir entfachen, was dein Anblick erweckt.

Hätte ich nur einen einzigen Wunsch, er würde deinen Namen tragen.«

Dann weinte er stumm, ohne den Grund seiner Tränen zu kennen.

 

Mitten in der Nacht rüttelte jemand an Sams Arm: »Wach auf!«

Er öffnete die Augen, konnte aber den Mann im Dunkel des Zimmers nicht erkennen. Erst dachte er, es sei McCarthy, mit dem er sich das Stockbett teilte, doch als er das abgehackte Schnarchen im unteren Bett hörte, wusste er, dass McCarthy schlief.

Der Mann, der ihn geweckt hatte, saß auf der Bettkante und betrachtete ihn. Sam konnte seine weißen, geraden Zähne gegen die Dunkelheit leuchten sehen. Er schien zu lächeln.

»Du musst mich zu Veronika bringen.«

Sam rieb sich die Augen. Der Mann sprach Deutsch. Trotzdem verstand er ihn. Träumte er?

»Sie wartet auf mich.«

»Wer bist du?«, fragte Sam.

»Du hast meinen Brief.«

Jetzt erkannte er ihn, obwohl das schwache Mondlicht im Fenster kaum reichte, mehr als nur seine Konturen aus der Dunkelheit zu heben. Das ovale Gesicht, die vollen Lippen. Er streckte die Hand aus und berührte den Arm des Mannes. Es war ein Arm aus Fleisch und Blut. Ein sehr intensiver Traum.

»Wirst du? Bringst du mich zu Veronika?«

»Wenn du mir sagst, wie?« Sam wollte wissen, wie dieser Traum weiterging.

»Mit dir. In dir.«

Die Gestalt begann sich aufzulösen. Wurde durch­sichtiger, kam näher. Schien mit einem Mal zu schweben, stülpte sich über Sam und er spürte, wie er von ihr durchwirkt wurde wie von einem Gas, das es vermochte, durch die Haut zu dringen.

Mit einem Schrei fuhr er hoch.

Seine Kameraden schraken auf. »Ruhe!«, kam es von einem der Betten auf der anderen Zimmerseite, »Was ist los?«, von dem anderen. McCarthy rief: »Alles okay bei dir?«

»Ja«, murmelte Sam. »Alles okay.«

Ein würgendes Gefühl drückte auf seine Kehle. Ihm war, als spüre er den Schatten einer anderen Seele in sich.

 

Schon Mittwoch Mittag meldete Sam sich dienstfähig. Er hatte es auf der einsamen Stube nicht mehr ausgehalten. Nicht nur die leeren Betten, die kahlen grünen Zimmerwände und die Stille, die Untätigkeit und das Grübeln über das, was er in der vergangenen Nacht erlebt hatte, machten ihm zu schaffen, sondern auch Angst.

Er hatte diesen Deutschen nicht selbst getötet. Als sie die Stellung erreichten, war das Gefecht bereits vorüber gewesen. Sie hatten die Schützengräben nach Überlebenden abgesucht und er fand den Mann, tot an der Wand des Grabens lehnend, den Brief in der herabgesunkenen Hand.

Es gab Männer, die sich vor der Rache der Toten fürchteten, besonders, wenn es Deutsche waren. In ihnen sahen einige das personifizierte Böse. Sam tat das nicht. Er wusste, dass die Deutschen an sich keine Teufel waren – auch wenn sie Schreckliches getan und zugelassen hatten. Aber im Angesicht ihrer Niederlage schien ihr Hochmut gebrochen. Kraftlosigkeit und das Bewusstsein, den Gewinnern dieses Krieges ausgeliefert zu sein, brachten die Sehnsucht nach Frieden in ihnen zum Vorschein, und bei vielen auch die Hoffnung auf Vergebung.

Die Angst, die Sam vor dem toten Mann hatte, kam nicht, weil er sich vor dessen Rache fürchtete, sondern, weil er ihm in seinem Traum so real erschienen war. Viel zu real.

 

Nach Feierabend saß Sam mit seinen Kameraden in der Bar, in der sie sich jeden Abend trafen. Sie hatten Spaß, unterhielten sich angeregt und einer erzählte von seinem Mädchen zu Hause und dass er sie bei seinem nächsten Urlaub heiraten wollte. Plötzlich brauste ein leises Rauschen in Sams Schläfen. Es wurde stärker, schwoll zu einem Tosen an, die Welt um ihn herum verschwamm. Die Münder seiner Kameraden bewegten sich, lachten, erzählten Geschichten – er hörte nur Wortfetzen durch den Sturm in seinem Kopf und begann, sich anders zu fühlen. Anders zu denken.

»Raus hier, solange du noch die Kontrolle über dich hast!«, durchzuckte es ihn.

Er warf zwei Pfund auf den Tresen und machte, dass er aus der Bar kam. Draußen angekommen rannte er die unbeleuchteten Gassen entlang, ohne zu wissen wohin, stolperte, fiel. Kieselsteine bohrten sich in seine Handflächen. Er rappelte sich auf, rannte weiter, dachte an Geschützfeuer, Granaten, die neben ihm explodierten, schreiend sterbende Kameraden. An die Tränen seiner Mutter, als er seine Einberufung erhalten hatte. An seinen Vater, der nicht aus Russland zurückgekommen war. An seine Schwester, irgendwo in Berlin geblieben. An Veronika. An ihr Lächeln. Daran, dass er so verdammt feige gewesen war.

Er musste zu ihr. Jetzt!

Der Bahnhof kam in Sichtweite. Martin rannte darauf zu. Zwar sah er Soldaten in britischen Uniformen, aber etwas sagte ihm, dass das in Ordnung war. Wie in einem Traum, in dem manche Dinge einfach sind wie sie sind. Er wollte an ihnen vorbeistürmen, als sie sich ihm in den Weg stellten und irgendwas zuriefen. Er verstand sie nicht. Sie wiederholten das Gesagte.

»Ich muss zu meinem Mädchen«, erklärte er. »Das versteht ihr doch, oder?«

Die Soldaten blickten einander verwirrt an. Martin wollte den Moment nutzen, um einfach weiterzurennen, da wurde er am Arm gepackt.

»Was soll das? Hey, verdammt, es ist wichtig. Ich muss jetzt zu ihr. Lasst mich durch!«

Die beiden redeten auf ihn ein. Klangen wütend. Martin wollte sich losreißen, doch einer drehte ihm den Arm auf den Rücken. Zwei weitere Soldaten kamen herbeigeeilt. Die Männer sprachen hektisch miteinander. Plötzlich zielten Pistolenläufe auf ihn. Er hörte auf sich zu wehren. Spürte einen bohrenden Schmerz in seiner Stirn. Lautes Rauschen toste in seinen Ohren. Ihm wurde schwarz vor Augen.

 

Die Zellentür wurde von klirrenden Schlüsseln aufge­schlossen. Lieutenant Masterson trat ein. Sam sprang auf und salutierte.

Masterson betrachtete ihn mit zusammengekniffenen Augen. »Junge, Junge, Sie können froh sein, dass Sie so gute Freunde haben.« Er musterte Sam von Kopf bis Fuß, dann nickte er. »Rühren!«

Sams Hand sank herab. Den Kopf geradeaus gestreckt bewegte er sich nicht, als Masterson ihn mit auf dem Rücken verschränkten Händen umschritt. »Woher können Sie so gut Deutsch, Forsythe?«

»Verzeihung, Sir?«

»Wollen Sie mich verarschen, Mann?«

Sam zuckte zusammen und rief: »Nein, Sir! Ich kann kein Deutsch, Sir!«

»Aha! Und welche Sprache war das dann, in der Sie mit den Kameraden am Bahnhof gesprochen haben? Latein?«

Sam wusste es nicht. Er wusste nicht, dass er mit Kameraden am Bahnhof gesprochen hatte. Nicht mal, dass er überhaupt dort gewesen war. Alles, was er wusste, war, dass er aus der Bar gerannt war. Danach herrschte Finsternis in seinem Gedächtnis, ein großes Loch, an dessen Wänden unangenehme Gefühle klebten.

»Ich kann mich nicht erinnern«, gestand er.

»Wer ist Martin Zellner?«

Sams Hände verkrampften sich. »Ich weiß nicht, Sir.«

Mastersons Augen blitzten wütend. »Hören Sie zu, Corporal. Sie sind vor zwei Tagen in meinem Büro gestanden und meldeten sich – auf Deutsch – als Obergefreiter Martin Zellner zum Dienst. Wissen Sie das etwa auch nicht mehr?«

Sam senkte den Blick und schüttelte schweigend den Kopf.

»Antworten Sie, Forsythe!«

»Sir, ja, ich weiß es nicht mehr. Ich habe keine Erinnerung daran!«

»Na gut.« Masterson presste die Lippen aufeinander. »Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder der Krieg hat Sie doch schlimmer erwischt, als es bisher den Anschein hatte, und Sie sind komplett durchgeknallt oder Sie sind ein Spion. Aber falls das so wäre, wären Sie ein verdammt dämlicher Spion. Was wollten Sie am Bahnhof, Forsythe?«

Zu Veronika.

»Ich habe keine Ahnung, Sir. Vielleicht hätte ich doch noch den halben Tag im Bett bleiben sollen. Vielleicht hatte ich Fieber und habe fantasiert.«

Lieutenant Masterson reckte das Kinn vor und betrachtete Sam argwöhnisch. »Wie gesagt, Sie können froh sein, so gute Freunde zu haben. Colonel Jefferson möchte, dass Sie mit dem nächsten Truppentransport nach Hause reisen und bis zur Wiederherstellung ihrer Gesundheit in der Heimat bleiben. Ich möchte, dass Sie wissen, dass ich ihm widersprochen habe. Ich möchte, dass Sie wissen, dass ich Sie stattdessen lieber unter Arrest gestellt und verhört hätte, um herauszufinden, was Sie so schlecht vor uns verbergen. Aber der Colonel hat sich aus Gründen, die ich nicht nachvollziehen kann, für Sie verbürgt, und ich nehme an, dass hat etwas mit Ihrer Familie und deren Verbindungen zu tun. Sei’s drum, ich kann es nicht ändern. Aber treten Sie mir bis zu Ihrer Abreise nicht mehr unter die Augen. Ihre Papiere liegen bereit. Packen Sie und verlassen Sie bis morgen Abend meine Kaserne!«

Er wandte sich ab und ging.

Fassungslos starrte Sam ihm nach. Binnen Sekunden zerbrachen seine Träume. Er war Soldat aus Überzeugung. Gehandicapt oder nicht, er wollte seinem Land dienen. Wie sollte er das nach diesem Tag weiter dürfen?

War dies die Rache des Deutschen? Dass er all seine Hoffnungen, all seine Träume von einem eigenständigen Leben, befreit von den Zwängen der Familie, die ihn als Kaufmann sehen wollte und sein Soldatendasein nicht akzeptierte, zunichte machte, indem er Besitz von ihm ergriff? Was geschah mit ihm, wenn Zellner in ihm war? Wo war er selbst dann? Warum hatte er keine Erinnerung an die Dinge, die er in dieser Zeit tat? Und wie sollte er verhindern, dass das wieder und wieder geschah?

Der Brief!, schoss es ihm durch den Kopf. Es war dieser Brief! Wenn er ihn vernichtete, war er vielleicht auch Martin Zellner los.

Sam rannte durch die offen stehende Zellentür, vorbei an Wachen, die ihn befremdet ansahen, aber nicht aufhielten, raus aus dem Verwahrungstrakt und quer über den Kasernenhof. Keuchend kam er an seinem Unterkunfts­gebäude an, hastete die Treppen empor, stieß die Tür zu seiner Stube auf und stürzte an sein Bett. In einem Anfall von entsetzlicher Wut riss er das Kopfkissen von der Matratze, den Brief vom Laken … aber gerade, als er im Begriff war, das Papier zu zerfetzen, sah er diese verwaschene Schrift, die zerlaufene Tinte, sah volle Lippen einen Mund ohne Gesicht küssen, spürte regelrecht, wie dieser Kuss sich anfühlte, so tief wohnte Martin bereits in ihm. Und so sehr er es auch wollte, so sehr er diesen Mann auch für das, was er mit ihm machte, hasste, er konnte den Brief nicht zerstören.

Seine Hände begannen zu zittern. Er ließ sich auf McCathys Bett sinken, faltete den Zettel auf und las stumm die Zeilen. Tränen rollten über seine Wangen, weil er fast das Schönste vernichtet hätte, was ihm in den letzten Jahren zuteil geworden war. An dem er sich in endlosen Kriegsnächten wiederbelebt hatte, um das seine Fantasien dicke Ranken aus Geschichten gesponnen hatten. Diese Zeilen hatten ihm so viel Trost gespendet, dass er trotz allen Leides, trotz aller Schrecken und aller ausgestandenen Ängste immer jene tiefe Zuversicht gespürt hatte, die ihm Gewissheit gab, dass jeder, Freund wie Feind, ein Mensch mit Gefühlen und der Fähigkeit zu lieben war. Und daran machte er all seine Hoffnungen auf einen wirklichen – einen ehrlichen – Frieden nach diesem unsäglich grausamen Krieg fest.

Sam faltete den Brief zusammen. Er erhob sich, ging zu seinem Spind und öffnete das Schloss.

Neben seiner Dienstkleidung hing ein beigefarbener Anzug. Er hatte ihn in Frankreich schneidern lassen und die Postanschrift seiner Stammeinheit angegeben. Nach monatelangen Umwegen war er schließlich in einem zerschundenen, aber ungeöffneten Paket Ende September hier in Braunschweig zugestellt worden. Heute war der Tag gekommen, an dem Sam wusste, wann er ihn das erste Mal tragen würde.

 

Mit seinem Seesack über der Schulter machte Sam sich auf den Weg zum Bahnhof. Er hatte dreißig Pfund in der Tasche, seine Papiere und eine Bescheinigung seiner Einheit, die ihn berechtigte, jeden zur Verfügung stehenden Zug Richtung Heimat zu nehmen.

Beim Anblick des Bahnhofs rang er mit sich. Er fragte sich, ob es richtig war, was er plante, und welche Folgen es für ihn haben mochte. Aber hatte er überhaupt eine Wahl?

Da war eine Liebe, so groß, dass ein Mann ihretwegen keine Totenruhe fand. Ihn heimsuchte, sich seiner bemächtigte …

Durfte er vor so etwas fliehen? Konnte er das?

Sie wartet auf mich.

Kurz vor dem Bahnhof machte er einen Schwenk nach links und verschwand im Grau der in Trümmern liegenden Stadt.

Muss ich als E-Book haben!

Nein, nicht von Amazon. Ich will ein E-Pub!

Ich will es, aber als Buch zum Anfassen!

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VIZITAȚI ROMÂNIA – 14 Tage Abenteuer

Wo man singet, lass dich ruhig nieder,
Ohne Furcht, was man im Lande glaubt;
Wo man singet, wird kein Mensch beraubt;
Bösewichter haben keine Lieder.

(Johann Gottfried Seume)

Bukarest

Auf all meinen Reisen geht etwas schief. Vorzugsweise verpasse ich mein Flugzeug oder vergesse etwas sehr, sehr Wichtiges zu Hause. Also wundere ich mich nicht, als ich schon beim Check-in im Stuttgarter Flughafen fast zwei Stunden in der Schlange vor dem Blue Air-Schalter warten muss, und ärgere mich auch nicht über Gebühr darüber, dass die Billig-Airline satte 50 Euro Aufschlag für das online nicht buchbare Gepäck verlangt. Wenn das alle Unannehmlichkeiten auf meinem 14-tägigen Trip durch das Land der Vampire und Gruselgeschichten sein werden, bin ich diesmal günstig weggekommen.

Viele Freunde und Kollegen verstehen nicht, warum es ausgerechnet dieses Land sein muss, und es ist auch nicht leicht zu erklären.

Im Grunde begann meine Leidenschaft für Land und Leute wegen einer Recherche. Ich schrieb an einem Roman, der in den Karpaten spielen sollte, weswegen ich mir sechs Monate lang jede Fernsehdokumentation angesehen habe, die gesendet wurde. Und wie ich mich mit dem Thema beschäftigte, verliebte ich mich Hals über Kopf in dieses Land. Ich fühlte mich hingezogen zu seinen waldreichen Hügeln, den als sehr gastfreundlich geschilderten Menschen, seiner bewegten Vergangenheit. Ich versuchte sogar, ein paar Brocken der Sprache zu lernen, von der man sagt, sie sei die romanischste aller Sprachen überhaupt. Und tatsächlich, mit den paar Fetzen Französisch und Italienisch, die ich kann, ist mir das Rumänische gar nicht so fremd, wie es sich für ungeübte Ohren zunächst anhört.

Ich erzählte also meinen Freunden und Kollegen von meinen Reiseplänen und war ziemlich überrascht, als ich feststellte, dass es von Rumänisch sprechenden Menschen im Kollegenkreis nur so wimmelt. Die meisten von ihnen sind sogenannte Siebenbürgendeutsche, die nach Ceaușescus Entmachtung das Land verlassen und sich in Deutschland ein neues Leben aufgebaut haben.

Als ich einer dieser Kolleginnen meine Pläne offenbarte, schlug mir sofort die sprichwörtliche rumänische Hilfsbereitschaft entgegen. Sie brachte mir unzählige CDs und DVDs mit rumänischer Folklore, lieh für mich Bücher in der Bibliothek, nicht eines oder zwei, sondern um die zehn, erzählte mir von ihrem Land, zeigte mir Bilder und versorgte mich mit Tipps, wie kein Reisebüro sie annähernd hätte liefern können. »Wenn Sie in Rumänien waren, weiß ich, es wird nicht Ihr einziger Besuch dort bleiben«, versprach sie mir zum Schluss.

Aber damit nicht genug. Ein anderer Kollege hatte bei einem Auslandsaufenthalt ein Jahr zuvor eine Rumänin aus Bukarest kennengelernt und den Kontakt zwischen uns hergestellt. Und eben diese Rumänin, Cosmina, freut sich nun auf meinen Besuch. In gut zwei Stunden wird sie mich – zusammen mit ihrem Verlobten Bogdan – am Henri Coanda Airport in Otopeni abholen.

Vielleicht ist auch Linda da. Die habe ich auf der Webseite vom ›Karpaten-Willi‹ aufgespürt, da gibt es eine Börse für Rumänien-Interessierte, die nicht alleine reisen wollen, und wie ich hat Linda eine Reisebegleitung gesucht; so kamen wir zusammen. Sie wusste bei unserem letzten Telefonat nicht, ob sie auf mich wartet oder schon mal ins Hotel vorfährt, also lasse ich mich überraschen.

Ich habe tatsächlich nichts Wichtiges vergessen. Das Smartphone ist da, mein Trekking-Rucksack mit Wäsche für vier Tage, Travellerschecks, Ausweis und Ausweiskopien und ein dicker Reiseführer mit Rumänienkarte sowie ein kleines Wörterbuch. Außerdem mehrere Bank- und Kreditkarten, verteilt auf den großen Rucksack im Gepäckraum des Fliegers und meinen kleinen, den ich als Handgepäck mitnehme. Und ein Kleidchen, denn am letzten Tag meiner Reise gönne ich mir was ganz Besonderes: Ich habe ein Zimmer im Hilton Sibiu gebucht.

Nach etwas mehr als zwei Stunden Flugzeit lande ich mit 45 Minuten Verspätung in Otopeni. Mein Gepäck kommt ziemlich zügig aus der Abfertigung und ich eile Richtung Ausgang. Hinter der Glaswand kann ich Cosmina und Bogdan sehen. Vor der Reise haben wir Bilder von uns ausgetauscht, wir wissen ja sonst nicht, wie wir uns finden sollen. Jetzt winken sie mir freudig zu und ich umarme sie kurz darauf zur Begrüßung. Obwohl ich sie nicht kenne, weiß ich sofort, sie sind wundervolle Menschen. Das sieht man einfach.

Bogdan schnappt sich meinen großen Rucksack und trägt ihn für mich. Sie fragen mich, wo mein Hotel ist, und führen mich vor das Terminal zu einem Taxi. Bogdan sitzt vorne, wir Mädels hinten, und sofort muss ich erzählen. Wie der Flug war, wie meine Reisepläne aussehen, was ich in Bukarest anschauen will … das weiß ich ebenso wenig, wie ich eine konkret ausgearbeitete Reiseroute habe. Nur eine ganz grobe: zuerst mit dem Nachtzug nach Norden in die Maramureș, anschließend zurück nach Süden Richtung Siebenbürgen. Dort nach Sighișoara (Schäßburg), nach Brașov (Kronstadt) und schließlich nach Sibiu (Hermannstadt). Mit Bukarest habe ich mich vor Reiseantritt überhaupt nicht befasst, also bitte ich Cosmina und Bogdan, mir die Stellen ihrer Stadt zu zeigen, die ihnen besonders gut gefallen.

Das Hotel, in dem ich meine erste Nacht in Bukarest verbringen werde, das Volo-Hotel, liegt mitten im Zentrum der Stadt. Bogdan und Cosmina loben den guten Standort.

Sie sprechen beide besser Englisch als ich und ich erfahre, die meisten jüngeren Rumänen können diese Sprache sehr gut. Das liegt daran, dass die Filme aus dem Ausland nicht synchronisiert, sondern untertitelt werden, also lesen die Kids schon von klein auf die Untertitel zu den englischen Filmen. Das erleichtert es ihnen, die Sprache zu lernen.

Ehe ich es verhindern kann, hat Bogdan das Taxi bezahlt und so habe ich gleich mal ein schlechtes Gewissen.

Vor dem Volo stehen ein paar Bistrotische, an einem von ihnen wartet Linda. Ich stelle sie meinen beiden neu gewonnen Freunden vor und wir verabreden uns, alle zusammen eine halbe Stunde später den Abend anzugehen.

Schnell die Sachen aufs Zimmer gebracht – es ist ein ausgesprochen geräumiges Zimmer, um die 30 Quadratmeter und mit Balkon –, dann wieder nach unten, wo Linda auf mich wartet. Sie sieht abgekämpft aus. Liegt sicher an der Reise.

Cosmina und Bogdan sind pünktlich. Sie führen uns durch die Altstadt von Bukarest, dem Paris des Ostens, das seinem Vorbild architektonisch in nichts nachsteht. Imposante Prachtbauten säumen die breiten, sauberen Straßen (sauberer, als Paris je werden wird), und auch wenn Ceaușescu viele wunderschöne Gebäude hat abreißen lassen, ist noch viel übrig geblieben, um den Besucher in Staunen zu versetzen: Die Universitätsbibliothek, früher Königspalast von Carol I. (bekannt auch als Karl Eitel Friedrich Zephyrinus Ludwig von Hohenzollern-Sigmaringen), der Cotroceni-Palast, Amtssitz des Präsidenten, der Arcul de Triumf, die rumänische Version des Triumphbogens in Paris, die Universität von Bukarest, der Palast des Patriarchen der rumänisch-orthodoxen Kirche … eine Liste, die sich noch lange fortsetzen ließe. Aber es gibt auch etwas sehr Geheimnisvolles: die mythenumwobenen Souterrains, die sich wie eine zweite Stadt unter der Erde erstrecken. Ich ärgere mich, nicht mehr Zeit für Bukarest eingeplant zu haben.

Cosmina erklärt stolz, sie habe Glück gehabt und in ihrem Lieblingslokal, dem Caru’ cu Bere (was so viel wie Bierkarre bedeutet) einen Tisch für uns ergattert. Das Caru’ cu Bere ist ein fast 140 Jahre alter Prachtbau, der an das Innere einer Kathedrale erinnert und seine Gäste auf zwei Etagen mit rustikaler rumänischer Küche versorgt. Es ist voll bis auf den letzten Platz; wir sitzen oben und haben eine gute Rundumsicht auf zahlreiche Holzschnitzereien, vergoldete Prunksäulen, die das Prachtgemäuer tragen, und die gedrechselten Balustraden, an denen fröhliche Gäste lehnen und sich bei goldgelbem Gerstensaft unterhalten.

Wie ich mich auf die rumänische Küche freue. Ich liebe deftiges Essen, es kann mir gar nicht schwer und fett genug sein, und so bestelle ich eine Beinscheibe mit geschmortem Gemüse. Cosmina und Bogdan essen als Vorspeise (!) eine in einem Brotlaib servierte Gulaschsuppe (höllisch scharf, kann ich nur sagen), anschließend Mămăligă (kennen wir unter der Bezeichnung Polenta) und Mici (das ist so was Ähnliches wie flach gedrückte Cevapcici). Bogdan meint, die Mămăligă schmecke wie Brot, aber die Mici seien die besten in ganz Bukarest. Er bietet mir von beidem an, aber ich lehne dankend ab. Meine Portion reicht mir, um mich dem Platzen nahe zu fühlen.

Und Linda – isst eine Suppe. Warum, frage ich, und wundere mich, wie man in einem Lokal wie diesem so einen Frevel begehen kann. Sie sagt, sie verträgt kein Fett, davon bekommt sie Durchfall. Das finde ich bedenklich in einem Land, wo nahezu jedes Essen recht fetthaltig ist.

Wir unterhalten uns über dies und das, als plötzlich Time of my Life aus Dirty Dancing aus den Lautsprechern ertönt. Bogdan sagt, ich solle mal nach unten sehen. Ich folge seinem Rat und traue meinen Augen kaum. Da legen zwei Paare in Tangokostümen eine erstklassige Dirty-Dancing-Performance hin. Als Nächstes folgt ein Tango, und mit ihrer Darbietung reißen die beiden Paare das begeisterte Publikum zu wildem Applaus hin. Am Schluss der Showeinlage tritt das komplette Personal des Restaurants zum Tanz an und bedankt sich auf diese Weise bei den Gästen.

Wieder übernimmt Bogdan die Rechnung. So langsam wird mir das richtig peinlich, denn egal, wie gut die beiden vielleicht für rumänische Verhältnisse verdienen, reich sind sie sicher nicht. Ich ringe ihnen das Zugeständnis ab, mich das nächste Mal bezahlen zu lassen.

Für den kommenden Tag versprechen Cosmina und Bogdan eine Stadtführung. Sie wollen sich den ganzen Tag für uns Zeit nehmen.

Selig schlafe ich ein, als ich mich gegen Mitternacht zu meiner ersten Nachtruhe in Rumänien begebe. Ich bin ganz und gar hingerissen; dies scheint der tollste Urlaub meines Lebens zu werden.

Das Frühstück im Hotel Volo lässt keine Wünsche offen. Es gibt Rührei, Wurst und Käse, frisches Obst und Orangensaft, Kaffee und Tee. Mit vom Vorabend gut geweitetem Magen haue ich rein, was das Zeug hält. Linda nicht so sehr, aber sie ist ja auch viel schlanker als ich, hat vielleicht Größe 36, da passt halt nicht so viel rein.

Wir unterhalten uns und Linda meint: »Also ich habe ja nicht viel dabei, der Rucksack wird sonst so schwer.« Und ich bestätige, auch ich habe nur das Nötigste eingepackt. Keine Trekkingkleidung, die hätte ich extra kaufen müssen und das war mir zu teuer. Also habe ich ein paar alte T-Shirts eingesteckt, eine Jeans für kühlere Tage und knielange Hosen für die wärmeren. Und eben mein Kleidchen. »Ein Kleid? Sind wir hier auf der Modenschau oder was?« Verdutzt sehe ich sie an und sage, das sei doch nur für meinen letzten Abend im Hilton. »Ich habe kein Kleid dabei.« Sie spricht es aus wie eine Rüge an mich. Darauf hin friert unser Gespräch ziemlich ein.

Nach dem Frühstück warten wir an den Bistrotischen sitzend auf Cosmina und Bogdan. Linda sieht sich viele der Menschen, die an uns vorübergehen, genau an. Irgendwann sagt sie: »Die Frauen hier sind alle so dünn.«

Das ist mir bisher nicht aufgefallen, was aber daran liegt, dass ich selbst nicht gerade dünn bin und es darum vermeide, diesbezüglich von der Natur begünstigtere Damen neidvoll zu betrachten. Das bringt mir nichts als Unzufriedenheit mit mir selbst, darum bekenne ich: »Da habe ich noch gar nicht drauf geachtet.« Als ich es dann tue, stelle ich fest, Linda hat recht. Es gibt tatsächlich eine Menge schlanke Frauen in Bukarest, obendrein sind viele auch äußerst hübsch. Aber sie sind auch meist mindestens zehn Jahre jünger als ich, wenn es reicht. Und die, die in meinem Alter sind … nun, was bringt es mir, mich mit ihnen zu vergleichen? Soll ich mich ihretwegen hässlich fühlen? Also versuche ich, ihnen keine weitere Aufmerksamkeit zu schenken.

Um 11 Uhr kommen Cosmina und Bogdan. Endlich – wie ich empfinde. Die Gespräche mit Linda strengen mich ein wenig an. Wir besuchen den Cişmigiu Park, eine wundervolle Anlage nur ein paar Gehminuten von der Innenstadt entfernt und der größte und zugleich älteste Park der Stadt. Herrliche Blumenteppiche zieren die Anlage und ein See mit Bootsverleih und künstlichen Inseln lädt Besucher zum Verweilen ein. An diesem See existiert eine gemütliche Bar, in die es uns als Erstes verschlägt. Unter anderem gibt es dort selbst gemachte Zitronenlimonade, genau das Richtige an diesem schon sehr warmen Morgen. Der Tag verspricht, heiß zu werden.

Anschließend machen wir uns auf dem Weg zur gigantischsten Sehenswürdigkeit von Bukarest – dem Parlamentspalast, Palatul Parlamentului. Er ist flächenmäßig nach dem Pentagon das zweitgrößte Verwaltungsgebäude der Welt, beherbergt über 5000 Räume – manche Quellen sprechen auch von 1000 oder 3000, niemand scheint das so genau zu wissen. Wie auch, 700 Architekten haben den Koloss erbaut, und irgendwo las ich neulich, er müsse erst mal kartografiert werden. Es heißt, dass keines der zum Bau benötigten Materialien importiert wurde, alles stammt aus Rumänien, wie zum Beispiel eine Million Kubikmeter siebenbürgischer Marmor, die sicher mit ursächlich dafür sind, dass der Palast das schwerste Gebäude der Welt ist, schwerer noch, als die Cheops-Pyramide.

Natürlich war der Bauherr niemand anders als Ceaușescu, dem es gleich war, dass sein Volk hungerte, während er unglaublich viel Geld für dieses Bauwerk verschleuderte. Es soll über drei Milliarden Euro gekostet haben, das war in den 1980ern noch bedeutend mehr Geld als heute. Der größenwahnsinnige Diktator wollte sich mit diesem Palast ein (nicht minder größenwahnsinniges) Denkmal setzen. Dummerweise für ihn hat er dessen Fertigstellung nicht mehr erlebt. Am 25. Dezember 1989 wurde er nach einer 40-minütigen Verhandlung vor einem Militärgericht von Soldaten hingerichtet. Der Mann, der sein Land jahrelang in Angst und Schrecken versetzt hatte, erlitt das gleiche Schicksal, das er so vielen hatte zuteilwerden lassen: im einem Hagel aus Kugel speienden Läufen von Militärgewehren brach er zusammen, mit ihm sein verhasstes Regime.

Uns ist es an diesem Tag nicht vergönnt, das Innere des Parlamentspalastes zu besichtigen. Zwar ist er für Besucher geöffnet, aber leider hat Bogdan seinen Ausweis nicht dabei und ohne kommt man nicht rein. Ein weiterer Grund, unbedingt noch mal nach Bukarest zu reisen.

Wir verlassen den Vordereingang und wandern entlang der endlosen Mauern, die das Areal umgeben. Auf der Rückseite des Gebäudes befindet sich das Nationalmuseum für moderne Kunst, aber weil keiner von uns diesem Thema wirklich viel abgewinnen kann, besuchen wir die Ausstellung ohne großes Interesse, sondern vielmehr, um uns von der fast 40 Grad warmen Stadt abzukühlen und anschließend die Dachterrasse aufzusuchen. Von hier aus hat man einen fantastischen Ausblick auf Bukarest.

In der Ferne erheben sich Plattenbauten gegen die vom heißen Sommer verbrannte Landschaft und direkt neben dem Palast die Baustelle einer unglaublich großen Kirche. Cosmina und Bogdan erzählen, die rumänisch-orthodoxe-Kirche errichtet diese Kathedrale. Ihr Name ist Catedrala Mântuirii Neamului Românesc – Kathedrale der Erlösung des rumänischen Volkes – und sie soll nach Fertigstellung höher sein als der Parlamentspalast. Ist sie die Antwort des Patriarchats auf die zahlreichen von Ceaușescu abgerissenen Kirchen? Vielleicht. Auf alle Fälle wird sie nicht weniger monumental sein, gebaut von einem Volk, dem ein Diktator den Glauben austreiben wollte. Aber damit ist er gescheitert. Selten habe ich ein gläubigeres Volk als die Rumänen erlebt. Gott ist in diesem Land omnipräsent und alle lieben Jesus – aufrichtig.

Sie zahlen übrigens keine Kirchensteuer. Finanziert wird die Kathedrale aus Spenden und regulären Steuermitteln.

Nach dem Besuch der Aussichtsplattform trennen sich unsere Wege vorerst. Eine rumänische Kollegin von Linda hat uns Fahrkarten für den Nachtzug nach Baia Mare besorgt. Das wäre nicht zwingend nötig gewesen, man kann man Tickets für rumänische Züge auch online auf der Webseite http://www.cfrcalatori.ro kaufen, aber so hat Linda die Gelegenheit, ihre Kollegin in Bukarest mal persönlich kennenzulernen.

Während sich die beiden treffen, bleibe ich bei Cosmina und Bogdan. Bei leckerem Essen und ein paar Bieren lassen wir den Tag ausklingen. Bogdan, der unter den strengen Augen seiner Verlobten wie ich zwei Biere trinkt, freut sich wie ein kleiner Junge, als ich ein drittes bestelle und ihn damit legitimiere, auch noch eines zu ordern. Diesmal darf endlich ich bezahlen und kann mein schlechtes Gewissen so erleichtern.

Gegen halb neun treffen wir am Bahnhof auf Linda, die schon wartet, und unsere großartigen Gastgeber verabschieden sich mit vielen guten Wünschen und der Freude auf ein vielleicht irgendwann kommendes Wiedersehen.

Muss ich als E-Book haben!

Nein, nicht von Amazon. Ich will ein E-Pub!

Ich will es, aber als Buch zum Anfassen!

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